Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
zurückging.
Lorenzo, der unbestrittene und allmächtige Patriarch des Hauses und der Banco d’Agostini, schenkte sich in aller Ruhe einen Cognac nach, ging zum Kamin und blieb unter dem schweren Ölbild des übermächtigen Urgroßvaters Massimo stehen. Er würde Nikola nun für alle Zeiten zur Vernunft bringen.
»Du wirst nichts anderes und nirgendwo anders studieren, als es die Familientradition von dir verlangt«, sagte er mit eisiger Bestimmtheit, kippte den Cognac in einem Zug hinunter und begab sich ebenfalls zurück in den Salon.
Das war das Letzte, was der Sohn von seinen Eltern gehört und gesehen hatte. Vor 41 Jahren. Das Studium der Theologie absolvierte Nikola in Göttingen, zum Priester wurde er wenig später in Paderborn geweiht, und nach verschiedenen Auslandsaufenthalten übernahm er Ende der Sechziger schließlich eine Pfarrei im Bistum Würzburg.
Ich war einer seiner ersten Zöglinge. Mit mir erarbeitete er das System Widerstand, das eine Grundfeste meiner Persönlichkeit bilden sollte.
»Regel Numero uno: Niemand hat dir zu sagen, was du zu tun hast. Du bist ein freier Mensch, mit freien Gedanken und einem offenen Herzen.
Regel Numero due: Es gibt nur eine Ausnahme. Gott Vater, unser aller Herr, befiehlt dir anders.«
Nach all den Jahren im Ministrantendienst, wechselnden Erfahrungen im Religionsunterricht an wechselnden Schulen und unvergesslichen Erfahrungen mit anderen Seelsorgern blieb vom Nikola’schen Regelwerk nur noch die Regel Numero uno übrig. Die Stimme des Herrn hatte schon damals aufgehört, zu mir zu sprechen. Alle Versuche, selbst die von Nikola, ihr erneut Gehör zu verschaffen, schlugen fehl. Ich blieb taub auf dem göttlichen Ohr.
»Wie zum Teufel kommst du hierher?«, fragte ich, Augen und Mund weit offen, als er in meiner Tür stand.
»Mit dem Teufel hat mich schon lange niemand mehr in Verbindung gebracht«, antwortete Pater Nikola und trat auf mich zu. Er umarmte mich wie ein Vater seinen verlorenen Sohn und drückte mich, als gelte es, alles Leben aus mir herauszupressen.
»Genug, genug«, stöhnte ich.
Er ließ los. »Schön, dass ich dich nochmal zu sehen bekomme, mein kleiner Kiliano. Wobei … aus dir ist ein richtiger Mann geworden. Groß, kräftig und, wie ich sehe«, er blickte an mir vorbei auf die Umzugskartons mit den Armanis, Hemden und Schuhen aus italienischer Manufaktur, »auch ein Mann mit Geschmack.«
»Deine Schule, Onkel Nikola.«
»Lass den Onkel weg, mein Gott. Das ist ja ein Jahrhundert her. Darf ich hereinkommen?«
»Ja, klar.«
Ich gebe zu, ich war überrascht. Wie zum Teufel kam Nikola nur so schnell hierher? Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass meine Mutter der Bitte erst in den nächsten Tagen nachkommen würde.
Nikola nahm auf dem einzig vorhandenen Stuhl Platz, schenkte sich ungefragt und reichlich aus der letzten Flasche Carlos ein und prostete mir zu. Mit einem Schluck war das Glas leer, und ich wusste, dass es etwas zu besprechen gab.
»Deine Mutter hat mich angerufen«, begann er wie eine Katze vor dem Sprung. »Sie hat mir erzählt, dass du in Schwierigkeiten bist und meine Hilfe brauchst.«
Ich schob einen der Kartons an den Tisch, setzte mich und füllte das Glas nach. »Und ich dachte schon, ich hätte vor ihr etwas verbergen können.«
»Du unterschätzt sie, wie immer.«
»Scheint so, sonst wärst du wohl nicht so schnell bei mir aufgetaucht.«
»Sie sagte mir, dass du Kontakt zu meinem Bruder Giulio aufnehmen willst.«
»Ich brauche einen Job. Besser, eine neue Perspektive.«
»Gefällt dir das Gendarmen-Leben nicht mehr? Ich dachte, du wärst auf dem besten Weg zum neuen Polizeipräsidenten der Stadt?«
»Ich habe gestern meinen Abschied genommen, vorübergehend zumindest, auf ein Jahr begrenzt. Wobei ich momentan nicht daran denke, nochmal in den aktiven Polizeidienst zurückzukehren. Ich suche nach einer neuen Herausforderung.«
»In einer Versicherung?«
»Wieso nicht? Sie zahlen gut, sind international tätig und brauchen immer gute Leute. So einen wie mich, der nicht viele Fragen stellt, sondern den Halsabschneidern und Betrügern auf die Schliche kommt. Und bei deinen Verbindungen habe ich mir gedacht, dass du mir diese Tür ein Stück öffnen kannst. Den Rest erledige ich selbst.«
»Du meinst, ich soll in deinem Namen Giulio anrufen.«
»Exakt. Er ist doch noch in Rom tätig?«
Nikola nickte wortlos und trank mein Glas leer. »Weißt du, Kiliano, das ist nicht so einfach, wie du dir das
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