Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
die Zufahrtstore am Bauzaun rund um das Gelände geschlossen. Kein Wort zur Presse! Die sollte außen vor bleiben, bis man Klarheit darüber hatte, worauf man hier gestoßen war. Doch die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, und Kameras und Feldstecher klebten bald an Giebeln und Hausfronten wie Spatzen auf Stromleitungen.
Dann war es so weit. Unter Aufsicht der lokalen Kirchenführung wurde der Sarkophag geöffnet. Die Platte war schwer und musste behutsam bewegt werden, es konnte schließlich alles Mögliche darunter verborgen sein und nach draußen entweichen. Vorsicht war geboten, und so schützten weihwassergetränkte Tücher Atemwege und Augenlicht. Zudem konnte ein Auseinanderbrechen etwaige Kunstschätze unwiederbringlich zerstören. Vielleicht, spukte es manchem Anwesenden im Kopf herum, vielleicht sind wir da auf etwas ganz Besonderes, nie Dagewesenes gestoßen, auf etwas Fundiertes, was die eigene mutige Theorie endlich beweist und die anderen dem Gespött preisgibt. Würde man endlich unverrückbare Beweise für das Leben und Wirken des heiligen Kilian, des Patrons des Bistums und Wegbereiters der nachfolgenden Christianisierung des Frankenlandes durch die Angelsachsen Burkhard und Bonifatius, ganz in der Nähe seiner heutigen Gruft im anschließenden Neumünster finden?
Die Überraschung war groß.
Nachdem der Kran die Platte aus dem erweiterten Loch nach oben gehievt hatte, starrten alle fassungslos in ein leeres Rechteck aus unberührtem Stein. Nun – nicht ganz. Der Sarkophag war an seiner Außenseite rund einen Meter hoch. Jetzt, nachdem die Platte entfernt worden war, kam eine weitere Platte zum Vorschein, die auf halber Höhe angebracht war. Auf ihr war in lateinischen Buchstaben eine Inschrift angebracht, die von Staub und Dreck verdeckt wurde. Um herauszufinden, worum es sich handelte, stieg einer der Archäologen mutig hinunter und verschaffte sich mit einem Handstrich Klarheit. Wie gebannt las er, was sich ihm offenbarte.
»Was steht da?«, fragte der Bischof ungeduldig vom hoch gelegenen Kraterrand aus.
»
Hic expectat adventum domini«
1 , sc hallte es hohl zu ihm herauf.
»Hic expectant?«
, rätselte Mayfarth. »Das haben wir doch schon in der Sepultur. Wobei, expectant oder expectat!«, rief er nach unten.
»
Expectat
«, lautete die Antwort. »Aber da ist noch was …« Eine Ewigkeit schien für die Beobachter außerhalb der Grube zu vergehen. Ungeduldig harrten sie der Nachricht aus der Vergangenheit.
»Also, was steht denn da noch?«, drängte Mayfarth und setzte bereits den Fuß auf den Krater, um selbst hinabzusteigen.
»Hier steht:
Priusquam longius processeris, tibi conscius sis veritatem te redempturam esse. Sin aliter accident, iter tuum pergas, animum tuum explores et dominum in omne tempus laudibus efferas.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte sich der Bischof.
»Bevor du weitergehst, sei dir gewahr, dass die Wahrheit dich erlösen wird. Wenn nicht, dann geh deines Weges, prüfe dich und preise demütig den Herrn in alle Ewigkeit.«
Noch bevor der Bischof seinen Baureferenten Dr. Mayfarth, zugleich oberster Kunstsachverständiger aller bayerischen Bistümer, nach dem Sinn dieser verschlüsselten Botschaft fragen konnte, schallte es erneut aus der Tiefe empor.
»Da ist eine Schlaufe aus Eisen, die in die Platte eingelassen ist. Los, lasst mir nochmal den Kran mit dem Seil herunter. Schnell.«
Das Stahlseil mit Karabinerhaken surrte herunter, und der junge Mann, euphorisiert vom Rausch der Entdeckung, befestigte ihn an der Platte. »Und hoch. Vorsichtig!«, gab er Befehl.
Das Seil geriet unter Spannung. Als ginge ein Riss durch den Stein, bewegte sich die Platte unheilschwanger und zitternd. Der Archäologe zwängte sich in die verbliebene Nische zwischen Mauer und ansteigender Steinplatte.
»Ja, gut so. Weiter! Gleich haben wir’s.«
Plötzlich gab es einen dumpfen Knall, als fiele ein massiger Stein zu Boden und zöge etwas anderes, etwas rostig Klirrendes hinterher. Noch bevor der Archäologe orten konnte, woher genau das unerwartete, seltsame Geräusch kam, zersplitterten die Steine der gegenüberliegenden Wand, und ein Eisengitter mit scharfen Spitzen schwang auf ihn zu. Er wich zurück, schloss die Augen und ergab sich in das Unvermeidliche.
Als würde eine Sehne reißen, einem dumpfen Ping gleich, fand das wuchtige Eisengitter einen Widerstand im Stahlseil, das die Last einer Tonne Stein trug. Der Stein schwankte gefährlich nahe an den neugierigen
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