Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
vorstellst. Nachdem mein Vater gestorben war – und er hatte schriftlich verfügt, dass er mich zu seiner Beerdigung nicht an seinem Grabe zu sehen wünscht –, ist der Kontakt zu meiner Familie, meinen Bruder Giulio eingeschlossen, nicht gerade das, was man herzlich nennt. Giulio konnte und wollte unsere Bank nicht allein führen. Er war kein zweiter Lorenzo, obwohl unser Vater genau das von ihm erwartet und meine Mutter bis zu ihrem Ableben besessen daran gearbeitet hatte. Aber er war nicht so wie er. Niemand würde so sein wie er. Nach Vaters Tod bat mich Giulio, wieder nach Rom zurückzukehren und mit ihm zusammen den Vorsitz der Bank zu übernehmen, bevor ein anderer Teil der Familie, die Linie meiner Mutter, darauf Anspruch erhob.«
»Und wie ist es gelaufen?«
»Ich lehnte ab. Ich konnte doch nicht meiner Gemeinde den Rücken kehren, als hätte es die letzten dreißig Jahre nicht gegeben. Giulio war verzweifelt. Mit allen Mitteln hat er versucht, mich zu gewinnen. Doch vergebens. Das Ende vom Lied war, dass er aus dem Vorsitz zurücktrat und die Leitung einer Cousine und ihren Brüdern überließ. Seitdem herrscht Funkstille zwischen uns beiden.«
Auch das noch. Ich ließ den Kopf sinken und griff nach dem Glas. Doch Nikola war schneller.
»Aber es gibt da noch eine andere Möglichkeit«, sagte er und kippte den Rest meines allerletzten Carlos.
Ich horchte auf. »Ja?«
»Sind die Kontakte zu meiner eigenen Familie auch schwach, so hat sich über die Jahre hinweg, nicht zuletzt durch die Verbindungen meines Vaters zur Vatikanbank und zur Politik, ein erfreulich guter Gedankenaustausch zwischen mir und Vertretern der römischen Kurie gehalten. Dort ist man unter anderem sehr an den Entwicklungen der Kirche in Deutschland interessiert. So konnte ich durch meine Arbeit den besorgten Gemütern im Vatikan die Bedenken nehmen, dass mit einer Bedrohung oder gar Zerstörung der heiligen Ordnung aus Deutschland zu rechnen sei. Eher gelte es, die vorherrschende Ordnung an die neuen Entwicklungen anzupassen. Aber das ist ein anderes Thema.
Was ich sagen will, ist, dass ich seit Jahren im Auftrag der Kurie in Europa unterwegs bin und neue Entwicklungen aufspüre, um Rom schnell damit vertraut zu machen.«
»Klingt interessant. Dann kommst du ja bestimmt viel rum. Ich beneide dich.«
»Kein Grund für Neid. Die Arbeit wächst mir dabei über den Kopf. Meine Gemeindemitglieder merken das nur zu gut und beginnen sich zu beschweren, wenn ich wieder auf Reisen bin. Daher habe ich mich entschlossen, etwas kürzer zu treten und einen Auftrag nach draußen zu geben. Und da dachte ich an dich.«
Ich war fassungslos. »Wie bitte? Ich soll für deine heilige römische Kirche in die Bresche springen? Das hat was. Ehrlich.«
»Es gibt niemand Geeigneteren als dich.«
»Ach ja. Und wieso das?«
»Weil du nicht glaubst, du Teufel.«
Der Archäologe tat, wie ihm geheißen. Achtsam fuhr er mit dem Messer zwischen den oberen Blattrücken und die darunter liegende Krümmung. Langsam zog er den Papyrus auseinander, das Material knackte unter der Belastung.
»Ganz vorsichtig«, beschwor Mayfarth den Blatt-Chirurgen.
Zutage traten zwei Rollen, die zum Teil schwer beschädigt waren. Schwarzrandige Löcher hatten sich quer durch die Texte gefressen, die Schriftzeichen litten unter Verblassung des verwendeten Farbstoffes und waren kaum als solche zu erkennen. Der eine Papyrus wies lateinische Schriftzeichen auf und schien der ältere der beiden zu sein.
Das Ende schmückte eine Unterschrift, daneben schwarzbraune Flecken, die nichts mit dem fortschreitenden Fraß am Material zu tun hatten. Ihre Anordnung schien auf den ersten Blick zufällig, gewann man aber etwas Abstand, verrieten sie den möglichen Abdruck einer Hand.
Der zweite Papyrus war in altfränkischen Schriftzeichen gehalten. Eine krakelige Hand hatte sich in der Kunst des Schreibens geübt. Mit Ich, Chamar begannen die Zeilen.
Mayfarth beugte sich über den mysteriösen Fund. Er murmelte unverständlich vor sich hin, während sein Blick über das Dokument huschte. Der Bischof unterzog die zweite Rolle einer Prüfung. Auch hier unverständliches Murmeln. Auf die plötzliche Hektik der beiden Würdenträger und den wortlosen Tausch der Positionen folgte alsbald Ratlosigkeit. Mit stummen Fragen auf den Lippen standen sie sich gegenüber.
»Konnten Sie etwas entziffern?«, fragte der Denkmalpfleger. Auch sein Zögling wartete gespannt auf eine Auskunft.
Der Bischof
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