Die Zeitbestie
nicht sein üblicher UN-Stunner, und es handelte sich auch nicht um Hardware, wie man sie auf der Straße häufig antraf. Polly erkannte in der Waffe ein Lieblingsversatzstück aus den neuesten interaktiven VR-Ballerserien wieder: eine MOG 5, die Kugeln aus abgereichertem Uran, zielsuchende Geschosse und superstarke Minigranaten ausspuckte, mit denen man ein Haus in kieselsteingroße Trümmer verwandeln konnte – falls die interaktiven Serien, die Ints, Recht hatten.
»Weißt du es?«, schrie er.
Polly starrte in seine blutunterlaufenen Augen und sein verwüstetes Gesicht und senkte dann den Blick auf das Bündel Pistolenläufe, mit dem er unter ihrem Kinn herumfuchtelte. Sie streckte vorsichtig die Hand aus und schob das Ding zur Seite; dann hakte sie die Handtasche los, ging an Nandru vorbei zum Sofa und setzte sich. Sie fand Feuerzeug und Zigaretten, zündete sich eine an und blies eine Rauchfahne.
»Warum erzählst du es mir nicht?«, fragte sie, und es klang gar nicht besonders undeutlich, trotz des Wodkas, den sie den ganzen Abend lang gekippt hatte.
Er deutete mit den Mini-Gatling-Läufen zum Fenster – über das sich neonhelle Regenrinnsale zogen, deren Farben sich jede Sekunde änderten, während das Kneipenschild auf der anderen Straßenseite seine Anzeigefolge abspulte. Nandru ging zum Fenster hinüber, und seine Umrisse zeichneten sich eine Weile davor ab.
»Es ist eine einzige Scheiße«, sagte er. »Falls es dich jagt, bist du gar nichts mehr – du hast keinerlei Bedeutung mehr für die Zukunft. Du bist nur ein Geschmack, ein Stückchen Protein, und du kannst nichts dagegen tun – nichts! Jesus, wir sind nur beschissene Häppchen für dieses Biest, und es kriegt uns jederzeit, wenn es Appetit hat! Es wird mich erwischen. Das weiß es auch. Ich weiß es. Für das Biest ist es nur ein Spiel.«
Er lehnte sich mit der Schulter an den Fensterrahmen, die Pistole in der Beuge des rechten Arms. Er streckte die linke Hand aus und verschmierte das Kondenswasser auf dem Glas – es war heiß in der Wohnung; und er seufzte, wirkte auf einmal sehr müde. Es musste dabei um Marjae gehen.
Aufgrund ihres Gewerbes hatten sie und Polly den Download der Weltgesundheitsorganisation kostenlos erhalten. Polly hatte sich die Daten eines Abends angesehen, als sie sich freigenommen hatte, damit die verordneten Medikamente Gelegenheit erhielten, den neuesten Schub an Herpes zu beseitigen – eingefangen, ehe Marjae Polly ausreichend in der Hygienedisziplin des Gewerbes geschult hatte. Das neueste und resistenteste HIV führte zu Neuem AIDS, informierte sie der Download. Dieses spezielle Mistvieh überlebte bis zu einer Stunde außerhalb des menschlichen Körpers und wurde so leicht übertragen wie Hepatitis A. Öffentliche Toiletten wurden strengsten Gesundheitsrestriktionen unterworfen, und in manchen sozialen Schichten war es bereits Mode, die Wohnung nur noch mit Maske zu verlassen. Auf der Straße kursierte das Gerücht, das Virus könne im Stechrüssel einer Mücke überleben, aber diese Information würde unterdrückt. Das Gerücht war nicht neu. Marjae wurde ein Jahr später bei der monatlichen Untersuchung HIV-positiv getestet, ein Jahr, nachdem sie beide über diesen Download – moderiert von einem hochnäsigen Arztprogramm – gelacht hatten, überzeugt davon, dass sie nicht so dumm waren, sich die Infektion einzufangen. Wiederum ein Jahr später starb sie an einer Form der Lungenentzündung. Wahrscheinlich PS 24, denn diese Variante grassierte damals. Wie Polly sich erinnerte, war es Marjae gewesen, die bemerkte: »Der Mann sagte, es wäre wie mit dem Krieg, weißt du noch? Wir würden allmählich schlau genug, sie zu nummerieren.«
Marjae: zum Skelett abgemagert in einem Bett des Arrestkrankenhauses. Ein letztes Schwätzchen, während sie schon den Euthanasierer auf dem Schoß hatte, einen Finger über der Taste. Pollys Antworten kamen nur gedämpft durch die Chirurgenmaske.
»Es ist nicht mehr leicht. Es bringt dich um. Hör auf damit. Hör auf, solange du noch kannst!«
Der Finger hämmerte auf die Taste, bis eine kleine rote Lampe ansprang und die tödlichen Medikamente durch die Schläuche in den Katheter schossen. Zehn Minuten später schlief Marjae; zehn Minuten danach war sie tot, und wiederum eine halbe Stunde später würde sie im Krematorium landen, wie Polly mitbekam, als sie das Krankenhaus verließ. Diese Krankenhäuser hatten eine hohe Fluktuation und mussten dabei die
Weitere Kostenlose Bücher