Die Zeitbestie
bevor.
Vor ihrem schmutzigen Spiegel nahm Polly den Anstecker in Augenschein, den ihr Nandru am Ohrläppchen befestigt hatte, während sie weggetreten war. Das Ding sah viel hübscher aus als ihr üblicher Topas, also ließ sie es stecken und wandte sich dem Metalltropfen zu. Mit dem verstärkten Fingernagel versuchte sie, ihn aus der Haut zu graben, aber er steckte fest. Nandru musste einen Hautbinder benutzt haben – das Zeug, das Witzbolde auf die Klobrillen öffentlicher Toiletten gepappt hatten, ehe man die alle dichtmachte. Zweifellos würde Polly Nandru mal wieder treffen, wenn sie beide nicht völlig neben der Spur liefen; dann konnte sie immer noch eine Erklärung fordern. Zunächst konnte das Ding sitzen bleiben; das Morgengeschäft war mitzunehmen, und auf Polly wartete Arbeit.
Sie zog absorbierende Schlüpfer an, eine lose Weste und gepolsterte Kniestiefel. Dann setzte sie sich vor den Spiegel und machte das Gesicht. Die Wohnung war verwahrlost und ihre Kreditgrenze gerade gut genug, um sich an einer Suppenküche anzustellen, aber Polly war stolz darauf, dass sie sich einen beliebigen Lappen aus dem Wohlfahrtsladen anziehen konnte und mit ein bisschen Eyeliner und Lippenglanz trotzdem gut genug aussah, um in Raffles oder Hothouse hineinzuspazieren. Sie schenkte sich ein Lächeln, das die weißen und gleichmäßigen Zähne freilegte. Die effektivsten tausend Euro, die sie je investiert hatte: keine Zahnfäule mehr, keine Speisereste an den reibungsfreien Zahnflächen und keine Schmerzen. Und die Wucht eines Schlages, der ausreichte, um diese Zähne zu brechen, würde Polly wahrscheinlich gleich umbringen, sodass sie sich auch in diesem Punkt keine Sorgen zu machen brauchte.
Passend aufgenuttet, band sie sich die wasserdichte Hüfttasche um und füllte sie mit den wesentlichen Zutaten für das Überleben auf der Straße: Kondome, gewebe- und spermientötendes Spray, ein schicker Toshiba-Taser von der Größe eines Pistolengriffs, die Smartcards, Geld, Zigaretten und Feuerzeug und der letzte Joint aus ihrem Vorrat. Den Joint gedachte sie sich aufzusparen, um die Dinge etwas zu vernebeln, wenn sie es mit dem unvermeidlichen reichen hässlichen Mistkerl zu tun bekam, dem sie gewöhnlich einen blasen musste. So ausgerüstet, ging sie hinaus auf die Straßen von Maldon Island.
Omas Küche hatte gerade geöffnet, als sie dort eintraf. Sie suchte sich einen Platz am Fenster aus und tippte, als sie sich setzte, Kaffee und Toast in das holografische Menu auf der Glasfläche des Tisches. Unterfenster gingen auf und fragten sie, welche Form der Zubereitung sie wünschte. Sie tippte ihre Auswahl ein und drückte ›Senden‹, ehe weitere Fenster aufklappten. Als die Bestellung eintraf, verspeiste Polly eine Toastscheibe und schob die andere zur Seite, um sich dann die erste Zigarette des Tages anzuzünden. Rauchend und Kaffee trinkend blickte sie auf die Straße hinaus.
Die Inselstadt füllte sich bereits mit Fußgängern und diesen Null-Kohlenstoff-Wasserstoffautos, die innerhalb der Stadtgrenzen erlaubt waren. Nach der zweiten Tasse Kaffee und der zweiten Zigarette beschloss Polly, dass es Zeit wurde, sich an die Arbeit zu machen. Schnell verließ sie Omas Küche und spazierte mit schwingenden Hüften die High Street hinauf. Minuten später hatte sie die übliche Position vor der Reformierten Kirche Hubbards bezogen. Dort stand sie dann mit der Hand auf der Hüfte und rauchte eine weitere Zigarette. Man hatte ihr erzählt, dass niemand eine Zigarette so provokant zu rauchen verstand wie sie. Der erste Kunde trat zehn Minuten später auf sie zu.
»Ich muss mir dringend einen blasen lassen«, sagte er. Polly kannte ihn von der Vorwoche. Nach seinen Geschäftsklamotten zu urteilen, war er Manager bei TCC, und er trug einen als altes Buch aufgemachten Laptop an einem Schulterriemen.
»Fünfzig«, sagte Polly und setzte ihren Preis damit um zehn Euro hinauf.
»Okay.«
Polly ging voraus auf die Rückseite der Kirche. Unterwegs sprühte sie sich Spermizid in den Mund und öffnete die Hüfttasche, um jederzeit nach dem Taser greifen zu können. Die Gasse hinter der Kirche war erfüllt vom Blütenduft eines Jasmins, der wild an einer Synthoholzwand wuchs. Auf den Pflastersteinen lagen gebrauchte H-Pflaster herum, die schleimigen Überreste von vergammelnden Kondomen, Kaugummipapier und ein eingeschlagener VR-Helm. Polly bemerkte Blutspritzer auf den Wänden und den Blättern der in der Nähe wachsenden Weinrebe.
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