Die Zeitfalte
sicher und geborgen, wie immer, wenn er bei ihr war.
Sie weinte vor Glück. »Oh, Vater!« schluchzte sie. »Vater!« Ihre Stimme versagte.
»Meg!« rief er, freudig erschrocken. »Wie kommst du hierher? Wo ist Mutter? Wo sind die Jungen?«
Sie starrte durch die Säule. Da draußen, in der Zelle, stand Charles Wallace, das Gesicht seltsam verzerrt.
Meg wandte sich wieder an ihren Vater. Jetzt war nicht die Zeit für unbeschwerte Wiedersehensfreude oder für lange Erklärungen.
»Wir müssen sofort zu Charles Wallace!« sagte sie.
Tastend streiften die Hände ihres Vaters ihr über das Gesicht. Und da, als sie die Berührung seiner kräftigen und doch so sanften Finger spürte, wurde ihr mit plötzlichem Entsetzen bewußt: Sie konnte Vater sehen, auch Charles Wallace, draußen in der Zelle, sogar Calvin, der noch immer auf dem Flur stand – aber Vater sah nichts. Nichts! Weder sie, noch die anderen. In panischer Angst blickte sie zu ihm auf. Seine Augen waren unverändert, wasserblau, vertraut. Und doch … ! Sie hob die Hand und spreizte vor seiner Nase plötzlich die Finger. Er blinzelte nicht einmal.
»Vater!« schrie sie auf. »Vater, kannst du mich sehen?«
Tröstend legte er die Arme um sie und sagte ruhig: »Nein, Meg.«
»Aber ich sehe doch dich!« rief sie. »Ich kann dich … « Ihre Stimme erstarb. Dann schob sie mit einem Ruck die Brille von Frau Diesdas von der Nase und spähte über ihren Rand. Augenblicklich war sie von völliger, undurchdringlicher Dunkelheit umgeben.
Sie riß sich die Brille herunter und drückte sie ihrem Vater in die Hand. »Da! Nimm!«
Seine Finger schlossen sich zögernd um die Bügel. »Meg«, sagte er sanft, »ich fürchte, daß mir deine Brille nicht nützt.«
»Doch!« drängte sie. »Sie gehört nicht mir. Das ist die Brille von Frau Diedas!« Es war ihr nicht bewußt, daß diese Worte ihm wie sinnloses Geschwätz scheinen mußten. »Bitte, versuche es doch! Bitte!«
Sie wartete, spürte, wie er im Dunkeln herumtastete. Dann fragte sie zaghaft: »Kannst du jetzt sehen, Vater?«
»Ja«, sagte er. »Ja, Meg. Die Wand ist durchsichtig geworden. Wie seltsam! Ich konnte beinahe mitverfolgen, wie sich die Atome neu ordneten!«
Seine Stimme hatte den vertrauten erregten Klang wie immer dann, wenn er eine Entdeckung gemacht hatte. So hatte er manchmal gesprochen, wenn er am Abend nach einem erfolgreichen Tag aus dem Labor gekommen war und von seiner Arbeit berichtete.
Plötzlich rief er: »Charles! Charles Wallace!« Und dann, erschrocken: »Meg, was ist mit ihm los? Was ist geschehen? Das ist doch Charles Wallace, oder … ?«
»ES ist in ihn gefahren, Vater!« erklärte sie mit gepreßter Stimme. »Er hat ES in sich aufgenommen. Vater, wir müssen ihm helfen!«
Herr Murry schwieg. Lange. Sein Schweigen war erfüllt von Gedanken, von Worten, die er seiner Tochter nicht anvertrauen konnte oder wollte.
Schließlich sagte er: »Meg. Ich bin hier gefangen. Ich bin hier seit … seit … «
»Aber du kannst durch diese Wände durchgehen, Vater! So, wie ich durch diese Säule gegangen bin, um zu dir zu kommen. Das hat die Brille von Frau Diedas bewirkt.«
Herr Murry fragte gar nicht erst, wer Frau Diedas eigentlich war. Er schlug mit der Handfläche gegen die Innenwand der gläsernen Säule. »Fest und undurchlässig«, sagte er.
»Und doch bin ich durchgekommen!« wiederholte Meg. »Ich bin bei dir. Vielleicht dient die Brille dazu, die Atome neu zu ordnen. Versuche es doch, Vater!«
Regungslos verharrte sie und wagte nicht einmal zu atmen. Dann erkannte sie, daß sie sich allein in der Säule befand. Sie streckte im Dunkeln die Hände aus und fühlte, daß sie ringsum von der glatten Härte des Glases umschlossen war. Sie war allein, völlig allein, eingehüllt in ewiges Schweigen, in ewige Finsternis. Mühsam kämpfte sie gegen die schreckliche Angst an; und dann drang endlich schwach von draußen die Stimme ihres Vaters an ihr Ohr:
»Ich komme zurück, Meg! Ich bin gleich wieder da!«
Fast konnte sie es körperlich erfassen, wie die Atome des geheimnisvollen Materials, das sie umgab, sich teilten, um ihn zu ihr durchzulassen …
In ihrem Sommerhaus in Cape Canaveral hatte sich im Durchgang vom Wohn- zum Eßzimmer ein Perlenvorhang befunden. Er trennte die beiden Räume wie eine Gardine aus festem Stoff, und doch konnte man mittendurch gehen. Anfangs hatte sich Meg davor jedesmal gefürchtet, gewöhnte sich aber bald daran und lief schließlich ungeniert von
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