Die Zeitfalte
redete ihm leise und eindringlich ins Gewissen. Meg erkannte die Worte wieder, die Frau Dergestalt Calvin mit auf den Weg gegeben hatte:
*
»Allein da du, ein allzu zarter Geist, ihr schnödes, fleischliches Geheiß zu tun, dich ihrem Machtgebot entzogst, verschloß sie … dich … in einer Fichte Spalt … ! «
*
Einen Augenblick lang schien Charles Wallace zuzuhören. Dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich ab. Aber diesmal ließ Calvin nicht locker und versuchte noch einmal, Charles‘ Blick zu bannen.
»Wer ist eine Hexe, Charles? Keine unserer drei Damen. ES, Charles, ES ist die wahre Hexe! Wie gut, daß wir in der Schule Shakespeare gelesen haben. ›Der ›Sturm‹, Charles, ›Der Sturm‹. Erinnere dich doch, Charles! Es ist doch die Hexe Sycorax, die Ariel in die gespaltene Fichte versetzt!«
»Hör auf, mich so anzustarren!« sagte Charles Wallace, wie aus großer Entfernung.
Calvin keuchte vor Erregung und nagelte Charles Wallace unbeirrt mit seinem Blick fest. »Dir geht es wie Ariel in der gespaltenen Fichte, Charles! Aber ich kann dich befreien. Schau mich an, Charles! Komm zu uns zurück!«
Wieder wurde Charles von einem Schauder durchrüttelt.
Calvins Stimme beschwor ihn, traf ihn wie ein Schlaghagel: »Komm zurück, Charles! Komm zu uns zurück!«
Noch einmal schüttelte es Charles. Aber dann – als hätte ihm eine unsichtbare Hand einen Schlag gegen die Brust versetzt – taumelte er und stürzte zu Boden. Calvin konnte den Blickkontakt nicht aufrechterhalten; der Bann war gebrochen.
Charles saß auf dem Flur und wimmerte, aber nicht wie ein kleiner Junge, der sich wehgetan hat, sondern wie ein weidwundes Tier.
Meg überlegte fieberhaft. »Calvin!« bat sie ihn plötzlich, »willst du es nicht bei meinem Vater versuchen?«
Er schüttelte verzagt den Kopf. »Beinahe hätte ich Charles freibekommen«, sagte er, ohne auf sie zu achten. »Fast hätte ich es geschafft, ihn zu uns zurückzuholen.«
»Versuch es bei Vater!« wiederholte Meg.
»Was meinst du?«
»Dein Vers, Calvin, dein Vers! Ist denn nicht Vater mehr noch als Charles in einer gespaltenen Fichte gefangen? Schau ihn dir doch an, in dieser gläsernen Säule! Hol‘ ihn heraus, Calvin!«
Calvin klang müde und ausgelaugt. »Meg«, sagte er, »ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Wie sollte ich denn durch diese Wand kommen? Meg, sie haben zu viel von uns verlangt!«
»Die Brille!« rief Meg plötzlich. Frau Diedas hatte gesagt, sie dürfe sie nur verwenden, wenn keine andere Wahl blieb; das war jetzt zweifellos der Fall.
Sie griff in die Tasche und spürte, daß die Brille darin geborgen lag, kühl, federleicht und tröstlich. Mit zitternden Fingern zog Meg sie heraus.
»Gib mir die Brille!« befahl Charles Wallace barsch. Er sprang auf und wollte sich auf Meg stürzen.
Es gelang ihr gerade noch, ihre eigene Brille abzunehmen und sie mit jener von Frau Diedas zu vertauschen. Sie wäre ihr beinahe von der Nase gerutscht; ein Bügel streifte ihre Wange, aber sie hielt.
Als Charles Wallace nach Meg griff, warf sie sich gegen die durchsichtige Stelle der Wand – und die gab nach! Meg war in der Zelle, in der die Glassäule ihren Vater einschloß.
Immer noch zitternd, schob sie sich die Brille von Frau Diedas zurecht und steckte die eigene in die Tasche.
Schon war Charles Wallace an ihrer Seite. »Gib mir die Brille!« forderte er drohend.
Draußen hämmerte Calvin wie verrückt gegen die Wand und versuchte vergeblich, ebenfalls in die Zelle zu gelangen.
Meg versetzte Charles Wallace einen Tritt und preßte sich gegen die Säule. Da war ein Widerstand, etwas Kaltes, Dunkles – aber sie überwand es.
»Vater!« rief sie und lag in seinen Armen.
Das war der Augenblick, auf den sie so lange gewartet hatte; nicht erst, seit Frau Dergestalt sie in diese Reise hineingewirbelt hatte, sondern schon in den langen Monaten und Jahren zuvor, als die Briefe ausblieben, als die Leute begannen, anzügliche Bemerkungen über Charles Wallace zu machen, und als Frau Murry, wenn auch selten, ihre Einsamkeit und ihren Gram nicht mehr zu verbergen vermochte.
Das war der Augenblick, der ihr Gewißheit gab, daß nun alles gut werden würde, alles – und für immer.
Eng preßte sie sich an ihren Vater. Die Freude ließ sie alle Not vergessen; jetzt war nur noch das innige Gefühl des tröstlichen Friedens in ihr. Sie lag in seinen Armen; sie spürte die wunderbare Kraft seiner schützenden Umarmung; sie wußte sich in ihr
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