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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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ihrer Lunge anzupassen. Vor ihren Augen begann alles in einem roten Meer zu verschwimmen …
    Aber dann wurde ihr Blick allmählich klar, und sie konnte wieder atmen, ohne wie ein gestrandeter Fisch nach Luft zu schnappen. Sie ließ den Blick durch das Innere des großen Kuppelbaus schweifen. Bis auf eine kleine runde Erhebung im Zentrum – und bis auf das beinahe sicht- und greifbare Pulsieren – war der Raum völlig leer. Auf dem Podest lag etwas. Meg konnte es nicht genau erkennen, aber sie wußte sofort, daß der Pulsschlag von dieser Stelle ausging. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher.
    Meg hatte keine Angst mehr. Die hatte sie hinter sich gelassen. Charles Wallace war wie verwandelt. Ihr Vater war gerettet, vermochte aber nicht, helfend einzugreifen. Alles war vielmehr nur noch schlimmer geworden. Ihr Vater war mager geworden, trug jetzt einen Bart und war nicht länger allmächtig. Was immer auch als nächstes geschehen mochte, konnte kaum noch schrecklicher sein als das, was sie bereits erlebt hatte.
    Oder doch?
    Als Meg sich langsam, Schritt um Schritt, der Plattform näherte, erkannte sie endlich, was sich dort befand: ES.
    ES war ein Gehirn.
    Ein riesiges Gehirn ohne Körper. Viel größer als ein Menschenhirn, abstoßend und schrecklich.
    Ein lebendes Gehirn.
    Ein Gehirn, das zuckte und bebte, das überallhin ausstrahlte und Befehle erteilte. Kein Wunder, daß ES schlichtweg ES hieß.
    Nie im Leben war ihr etwas so Widerwärtiges, so Ekelerregendes begegnet; nie hätte ihre kühnste Phantasie etwas Vergleichbares ausmalen können; nicht einmal der schlimmste Alptraum vermochte, einen solchen peinigenden Anblick heraufzubeschwören.
    Aber Meg hatte nicht nur die Angst hinter sich gelassen, sondern auch das Entsetzen.
    Stumm beobachtete sie Charles Wallace. Der stand vor dem großen ES, ließ das Kinn hängen und begann langsam, seine leeren blauen Augen zu verdrehen.
    Oh, doch: es konnte immer noch schlimmer kommen! Die wie im Krampf verdrehten Augen in dem unschuldigen Kindergesicht ließen Meg innerlich und äußerlich erstarren.
    Sie wandte sich von Charles Wallace ab und ihrem Vater zu. Der hatte immer noch die Brille von Frau Diedas auf der Nase – ob ihm das eigentlich bewußt war? – und schrie Calvin beschwörend entgegen: »Nicht nachgeben! Nicht nachgeben!«
    »Bestimmt nicht!« rief Calvin zurück. »Meg, hilf mir!«
    Im Kuppelbau herrschte absolutes Schweigen, und doch erkannte Meg, daß die einzige Möglichkeit, sich zu verständigen, darin bestand, aus Leibeskräften zu brüllen. Denn wohin immer Meg sich auch wandte, wohin immer sie auch blickte: der alles beherrschende Rhythmus war übermächtig zugegen. Er kroch in ihr Herz und ließ es sich weiten und verengen; er kroch in ihre Lungen und befahl ihnen, nach seinem Willen zu atmen … Wieder zogen vor ihren Augen rote Nebelschleier auf, und sie fürchtete, nun doch das Bewußtsein zu verlieren. Wenn das geschah, hatte ES Meg endgültig in seine Gewalt gebracht.
    Frau Wasdenn hatte gesagt: »Meg, ich gebe dir deine Fehler.«
    Was waren ihre größten Fehler? Zorn, Ungeduld, Starrsinn. Ja, auf diese Fehler mußte sie nun zurückgreifen, um zu bestehen, um sich zu retten.
    Mit ungeheurer Anstrengung begann sie, gegen den Rhythmus zu atmen, den ES ihr vorgab. Aber ES war stärker als sie. Jedesmal, wenn es ihr gelang, seinen Zwang zu überlisten, griff eine eiserne Hand nach Meg und drohte, ihr Herz und ihre Lungen zu zerquetschen.
    Dann fiel ihr wieder ein, wie Charles Wallace und Calvin sich gegen den Mann mit den roten Augen zur Wehr gesetzt hatten: auf das monotone Einmaleins hatten sie mit Liedern geantwortet.
    »Der Kuckuck und der Esel«, brüllte sie, »die hatten großen Streit … «
    Das nützte nichts. Einem Kinderlied konnte ES nur allzuleicht seinen Rhythmus aufzwingen. Und das andere Lied, jenes, das Calvin gesungen hatte, kannte sie nicht. Wie hatte es nur begonnen?
    »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten!« schrie sie, und noch einmal: »Die Gedanken sind frei … «
    Während sie lauthals diese Worte herausschrie, spürte sie, wie ein fremder Wille in sie einzudringen versuchte, fühlte sie, wie ES von ihrem Denken Besitz ergreifen wollte. Jetzt erst erkannte sie, daß Charles Wallace zu ihr sprach – oder vielmehr, daß ES sich durch ihn an sie wandte:
    »Aber das ist es doch, genau das, was wir hier auf Camazotz haben! Weil wir alle gleich sind, sind wir alle frei!«
    Erst wirbelte in ihrem Kopf alles wild

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