Die Zeitfalte
Wallace. »Wir müssen gehen.«
Er hob achtlos die Hand und verließ die Zelle. Meg und Herr Murry hatten keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
Als sie auf den Flur traten, faßte Meg ihren Vater am Ärmel. »Das ist Calvin«, sagte sie.
Calvin blickte ihnen unsicher entgegen. Seine Sommersprossen und sein roter Haarschopf hoben sich überdeutlich von seinem blassen Gesicht ab.
»Spart euch das Zeremoniell für später«, erklärte Charles Wallace, kurz angebunden. »ES wird ungehalten, wenn man ES warten läßt.«
Mit raschen Schritten eilte er ihnen voran, dabei wurde sein Gang immer marionettenhafter. Die anderen hatten Mühe, Charles zu folgen.
»Weiß dein Vater über die drei Damen Bescheid?« fragte Calvin Meg.
»Wir hatten noch für nichts Zeit. Und mit jeder Minute wird alles immer schlimmer.«
Die Verzweiflung lastete wie ein Stein auf Meg. So sicher war sie gewesen, daß alles gut sein würde, sobald sie nur ihren Vater gefunden hatten. Dann würde sich alles wie von selbst lösen. Dann würde es für sie keine Probleme mehr geben. Dann würde ihr endlich die Verantwortung abgenommen sein … Statt dessen gingen sie aber nun offenbar bloß neuen Gefahren entgegen.
»Er scheint nicht zu begreifen, was mit Charles passiert ist!« flüsterte sie Calvin zu und blickte unglücklich zu ihrem Vater auf, der Charles hart auf den Fersen folgte.
»Wohin gehen wir eigentlich?«
»ES erwartet uns. Calvin, ich möchte nicht zu ihm! Ich stehe das nicht durch!«
Sie hielt inne. Charles zuckelte unbeirrt weiter.
»Wir dürfen Charles nicht verlassen. Das wäre ihnen bestimmt nicht recht.«
»Wem?«
Frau Wasdenn und ihren beiden Freundinnen.«
»Aber sie haben uns betrogen! Sie haben uns auf diesem schrecklichen Planeten abgesetzt und uns im Stich gelassen.«
Calvin blickte sie überrascht an. »Du willst aufgeben?« sagte er. »Nun, meinetwegen. Bleib da und mach es dir bequem. Ich bleibe jedenfalls bei Charles.»Und er beschleunigte seine Schritte, um Charles Wallace und Herrn Murry aufzuholen.
»Ich denke doch gar nicht daran, jetzt … « begann Meg, beschränkte sich aber dann darauf, den dreien nachzulaufen.
Kaum hatte sie sie erreicht, blieb Charles Wallace stehen und hob die Hand. Sie waren wieder beim Fahrstuhl angekommen, und das düstere gelbe Licht der Kabine erwartete sie. Meg spürte, wie sich ihr Magen hob, als die Fahrt mit hoher Geschwindigkeit nach unten ging.
Sie schwiegen. Sie sprachen auch nicht, als sie den Fahrstuhl verließen, hinter Charles Wallace durch lange Korridore schritten und zuletzt auf die Straße traten. Hinter ihnen blieb, massig und drohend, das Gebäude des ZENTRALEN Zentralen Nachrichtendienstes zurück.
»Tu doch etwas!« beschwor Meg insgeheim ihren Vater. »Tu doch etwas! Hilf uns! Rette uns!«
Sie bogen um die Ecke. Vor ihnen, am Ende der Straße, lag ein ungewöhnliches Bauwerk: einer großen Kuppel gleich, deren Wände aus violett flackernden Flammen bestanden. Auch die silberne Kuppelschale pulsierte in geheimnisvollem Licht. Das Licht war weder warm noch kalt, schien aber wie mit Fühlern nach ihnen zu greifen.
Dort drinnen – das ahnte, das wußte Meg – wartete ES auf sie.
Ihr Gang war jetzt langsamer geworden; und als sie die riesige Kuppel beinahe erreicht hatten, züngelten die violetten Flammen tatsächlich auf sie zu, umhüllten sie, saugten sie ein … und schon waren sie im Inneren des Gebäudes.
Meg fühlte ein stark rhythmisches Pulsen. Dieser Pulsschlag bestimmte nicht nur, was um sie herum geschah, er herrschte auch in ihr – als hätten ihr Herz und ihre Lungen aufgehört, von selbst zu arbeiten und sich einer fremden Gewalt unterworfen. Ein vergleichbares Erlebnis hatte sie schon einmal gehabt: bei einer Übungsstunde der Pfadfinderinnen. Damals hatte die Gruppenleiterin, eine besonders kräftig gebaute Frau, an Meg demonstriert, wie man künstliche Atmung anwendet. »Heraus mit der schlechten Luft – hinein mit der guten Luft!« hatte sie unablässig wiederholt und Meg dabei mit ihren Pranken den Brustkorb abgepreßt – losgelassen, abgepreßt – losgelassen …
Meg rang nach Luft. Sie versuchte, im gewohnten Rhythmus zu atmen, aber der hartnäckige Pulsschlag um sie her und in ihrem Inneren bestimmte weiterhin unnachgiebig den Takt. Im ersten Augenblick vermochte sie sich weder zu bewegen noch nach den anderen Ausschau zu halten. Sie mußte einfach stehenbleiben und versuchen, sich dem unnatürlichen Rhythmus ihres Herzens und
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