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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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angerannt.
    Calvin fing sie auf. »Diesmal trügt der Schein«, erkannte er. »Wir können durchsehen, aber nicht durchgehen.«
    Meg schmerzten von dem heftigen Anprall die Glieder, und sie fühlte sich so schwindelig, daß sie nicht antworten konnte. Im ersten Augenblick fürchtete sie sogar, sich übergeben zu müssen oder das Bewußtsein zu verlieren.
    Wieder lachte Charles Wallace. Es war nicht sein eigenes Lachen – und das half Meg, sich einmal mehr in ihren Ärger zu flüchten und auf diese Weise Schmerz und Angst zu überwinden. Der wirkliche, der liebenswerte Charles Wallace hätte sie nie ausgelacht. Im Gegenteil: er hätte sie sofort in seine Arme genommen und tröstend seine Wange an ihre gelegt. Nie hätte er sie so schadenfroh verspottet, wie dieser verzauberte Dämon in der Gestalt von Charles Wallace.
    Sie wandte sich von ihm ab und blickte wieder den Mann in der Säule an.
    »Vater —!« flüsterte sie sehnsüchtig, aber er reagierte nicht, schien sie nicht einmal zu sehen. Ohne die Hornbrille, die doch sonst immer sein Aussehen geprägt hatte, wirkte er seltsam; den Blick nach innen gekehrt, als sei er in tiefe Gedankenversunken. Auch war ihm ein Bart gewachsen, und sein seidig braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Es war lang, aber nicht so wie früher, nicht so wie auf dem Foto von Cape Canaveral. Jetzt wich es aus der hohen Stirn zurück und fiel weich bis fast auf die Schultern. Mit diesem Haar sah Vater aus, als käme er aus einem anderen Jahrhundert, oder als sei er ein schiffbrüchiger Matrose. Aber trotz aller Veränderungen bestand aber kein Zweifel: der Mann in der gläsernen Säule war ihr Vater, ihr lieber, armer Vater!
    »Sieht er nicht scheußlich aus?« sagte Charles Wallace und lachte lauthals.
    Zornig fuhr ihn Meg an: »Charles! Das ist Vater!«
    »Na, und?«
    Meg wandte sich angewidert von ihm ab und streckte dem Mann in der Säule die Arme entgegen.
    »Er kann uns nicht sehen!« mahnte Calvin leise.
    »Warum nicht? Warum denn nicht?«
    »Vielleicht ist das hier nur so eine Art Guckloch, wie man es bei manchen Wohnungstüren hat«, versuchte Calvin zu erklären. »Von innen kann man alles beobachten, aber von außen ist nichts zu erkennen. Wir sehen ihn, und er sieht uns nicht.«
    »Charles!« bat Meg. »Laß mich zu ihm!«
    »Warum?« fragte er seelenruhig.
    Plötzlich erinnerte sich Meg daran, wie es ihr zuvor in der Halle – bei ihrer Konfrontation mit dem Mann mit den roten Augen – gelungen war, Charles Wallace wieder zu sich selbst zu bringen. Sie hatte ihn gepackt, und dabei war sein Kopf auf den Boden aufgeschlagen … Meg wollte sich erneut auf ihn stürzen, aber da schoß seine kleine Faust vor und traf sie hart in die Magengrube. Meg rang nach Atem. Ihr war ganz elend. Sie ließ ihren Bruder stehen und wandte sich erneut der durchsichtigen Wand zu.
    Eine kleine Zelle. Eine gläserne Säule, die ihren Vater umschloß. Sie konnte ihn sehen; sie konnte ihn beinahe berühren; und doch war er ihr ferner denn je; ferner noch als damals, als sie Calvin Vaters Foto auf dem Klavier gezeigt hatte. Er stand bewegungslos; als sei er in die Säule eingefroren. Der leidende, duldende Gesichtsausdruck schnitt ihr wie ein Messer ins Herz.
    »Hast du nicht behauptet, daß du deinem Vater helfen möchtest?« ließ sich Charles Wallace vernehmen. Seine Stimme verriet nicht die geringste Gefühlsregung.
    »Natürlich! Du etwa nicht?« rief Meg und funkelte ihn zornig an.
    »Aber klar doch. Deswegen sind wir ja hier.«
    »Was werden wir also jetzt tun?« Meg bemühte sich, ihre Erregung zu verbergen und so sonderbar gleichmütig zu scheinen, wie Charles Wallace sich gab. Es gelang ihr nicht; ihre Stimme kippte über.
    »Ihr braucht bloß zu tun, was ich getan habe, und ES zu euch zu lassen.«
    »Nein!«
    »Ich fürchte, ihr wollt Vater gar nicht wirklich retten.«
    »Kann ich ihn denn nur retten, indem ich meine Seele aufgebe?«
    »Mein Wort darauf, Margaret«, bekräftigte Charles Wallace kalt und ungerührt. »ES will dich, und ES wird dich bekommen. Bedenke, daß ES jetzt auch ein Teil von mir geworden ist. Das hätte ES doch nie geschafft, wenn ES nicht die einzige wahre Lösung wäre.«
    »Calvin!« wandte sich Meg in höchster Not an ihn. »Wäre das wirklich die Rettung für Vater?«
    Aber Calvin achtete nicht auf sie. Er konzentrierte seine ganze Willenskraft auf Charles Wallace, blickte ihm tief in die Augen – in das stumpfe Blau, zu dem sie geworden waren – und

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