Die Zeitfalte
Form bleibt ihm jede erdenkliche Freiheit, alles auszudrücken, was er uns sagen will?«
»Ja.« Wieder nickte Calvin.
»Da hast du‘s!« sagte Frau Wasdenn.
»Was?«
»Ach, stell dich doch nicht so dumm, mein Junge!« schallt sie ihn. »Du hast sehr gut verstanden, was ich damit sagen wollte.«
»Sie meinen, daß unser Leben mit einem Sonnett verglichen werden kann? Eine unveränderliche äußere Form – aber innerhalb dieser Form die völlige Freiheit?«
»Genau das«, sagte Frau Wasdenn. »Die Form ist euch vorgegeben, aber das eigentliche Sonnett müßt ihr selbst schreiben. Jeder von euch. Was ihr zu sagen habt, bleibt ganz eure Sache.«
»Frau Wasdenn! Bitte!« rief Meg. »Wenn ich schon gehen muß, dann am liebsten gleich, damit ich es hinter mich bringe. Mit jeder weiteren Minute fällt mir das Warten nur schwerer.«
»Ssie hatt rrecht!« dröhnte Frau Dergestalts Stimme. »Ess isst ann derr Zeitt!«
»Du darfst dich jetzt verabschieden.« Frau Wasdenn sagte das, als sei es ein Befehl.
Meg knickste unbeholfen vor den Tieren. »Ich danke euch allen. Von ganzem Herzen. Ich weiß, daß ihr mir das Leben gerettet habt.« Sie verkniff sich zu sagen, was sie dabei zwangsläufig denken mußte: Wozu? Damit ES es bekommen kann?
Sie umarmte das Tantentier und schmiegte sich ganz fest an das weiche, duftende Fell. »Ich danke dir!« flüsterte sie. »Ich – ich mag dich.«
»Ich dich auch, kleines Ding.« Das Tier streichelte Meg sanft mit dem Fühler über die Wange.
»Cal«, sagte Meg und streckte ihm die Hand entgegen.
Calvin kam auf sie zu, nahm ihre Hand, zog Meg aber dann ungestüm an sich und gab ihr einen Kuß. Er sagte kein Wort, und weil er sich gleich wieder brüsk abwandte, konnte er nicht sehen, wie Megs Augen vor Überraschung und Glück aufleuchteten.
Zuletzt verabschiedete sie sich von ihrem Vater. »Bitte … bitte verzeih mir.«
Er nahm sie an beiden Händen, bückte sich zu ihr und blinzelte sie aus seinen kurzsichtigen Augen an. »Was soll ich dir denn verzeihen, Megaparsec?«
Als er sie so plötzlich wieder bei ihrem alten Rufnamen nannte, wurde ihr einmal mehr zum Heulen zumute. »Ich wollte, daß du alles für mich erledigst. Daß du mir alles einfach und leicht machst … Und so habe ich die ganze Schuld dir zugeschoben – weil ich mich fürchtete, und weil ich zu feige war, selbst etwas zu tun.«
»Aber ich war ja bereit, dir alles Schwere abzunehmen«, sagte Herr Murry. »Dafür sind Eltern doch da.« Er blickte ihr tief in die angstgeweiteten Augen. »Nein, so lasse ich dich nicht gehen, Meg. Ich gehe selbst.«
»Unmöglich.« Mit solcher Entschiedenheit hatte Frau Wasdenn noch nie gesprochen. »Sie werden Meg nicht das Vorrecht nehmen, sich dieser Gefahr zu stellen. Sie sind ein einsichtsvoller Mensch, Herr Murry. Sie werden Meg ziehen lassen.«
Herr Murry seufzte. Er zog Meg an sich. »Meine kleine Megaparsec. Habe keine Angst davor, Angst zu haben. Wir werden versuchen, für dich mutig zu sein. Mehr können wir nicht für dich tun. Deine Mutter … «
»Mutter hat mir immer einen sanften Stups in die Welt gegeben«, sagte Meg. »Du kennst sie doch. Auch sie würde jetzt von mir erwarten, daß ich tue, was zu tun ist. Sag ihr … « Die Stimme erstarb ihr. Dann hob sie den Kopf und schloß: »Nein. Vergiß es. Ich werde es ihr selber sagen.«
»Du bist ein tapferes Mädchen! Natürlich wirst du es ihr selber sagen.«
Langsam ging Meg um den großen Tisch herum und auf Frau Wasdenn zu, die noch immer im Säulengang wartete. »Kommen Sie mit?«
»Nein. Nur Frau Dergestalt.«
»Das Schwarze Ding … « Wieder begann ihre Stimme vor Furcht zu zittern. »Als Vater mit mir durchgetessert ist, hätte es mich beinahe behalten.«
»Deinem Vater fehlt einfach die Übung«, sagte Frau Wasdenn. »Aber er ist ein außergewöhnlicher Mensch und verdient es, mehr darüber zu erfahren. Noch packt er jede Tesserung an, als sei sie eine Flugmaschine. – Wir werden dafür sorgen, daß das Schwarze Ding dich nicht bekommt. Ich hoffe zumindest, daß uns das gelingen wird.«
Es war ein sehr schwacher Trost. Er ließ den Glauben und die Zuversicht schwinden, die Meg eben noch erfüllt hatten.
»Angenommen, es gelingt mir nicht, ES zu besiegen und Charles Wallace freizubekommen … « sagte sie.
»Augenblick!« Frau Wasdenn hob die Hand. »Als wir euch das erste Mal nach Camazotz brachten, haben wir euch einige Gaben mitgegeben. Wir lassen dich auch jetzt nicht ohne Hilfe ziehen
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