Die Zeitfalte
– obgleich du diesmal nicht mit Händen greifen kannst, was du auf den Weg bekommst. Ich schenke dir meine Liebe, Meg. Vergiß das nicht. Für immer und ewig: meine Liebe.«
Frau Diedas strahlte Meg freundlich an. Meg griff in ihre Jackentasche und gab die Brille zurück, die auf Camazotz so gute Dienste geleistet hatte.
»Dein Vater hat recht«, sagte Frau Diedas, nahm sie und verstaute sie irgendwo in den weiten Falten ihres Gewandes. »Die Brille hat ihre Kraft eingebüßt. Was ich dir heute gebe, mußt du als Ganzes begreifen, nicht einfach Wort für Wort. Es muß dich wie eine Eingebung treffen, blitzartig – so wie das Tessern. Hör zu, Meg. Hör gut zu:
›Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. Sehet an, liebe Brüder, eure Berufung: nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Gewaltige, nicht viele Edle sind berufen; sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist.‹ Griechisch. Die Bibel. Der erste Brief des Paulus an die Korinther.« Sie machte eine Pause, dann sagte sie: »Möge das Recht den Sieg davontragen!«
In ihrem Gesicht begann es zu flimmern. Die Säule, hinter der sie stand, schimmerte allmählich durch ihren Körper hindurch. Ein letztes Aufblitzen, und Frau Diedas war verschwunden.
Meg blickte rasch zu Frau Wasdenn hinüber – aber auch sie hatte sich bereits aufgelöst.
»Nein!« rief Herr Murry und wollte auf Meg zueilen.
Frau Dergestalts Stimme kam aus dem pulsierenden Flirren: »Ichh kkann ddich lleider nichtt ann dder Hannd nnehmen, Kinndd!«
Und schon wurde Meg ins Dunkel, ins Nichts geschleudert – und mitten hinein in die Todeskälte des Schwarzen Dings.
»Frau Dergestalt wird nicht zulassen, daß es mich bekommt!« dachte Meg immer und immer wieder, während sich der klammernde Frost in ihre Knochen fraß.
Dann waren sie durch, und Meg stand atemlos auf jenem Hügel, auf dem sie schon einmal auf Camazotz gelandet war.
Sie fröstelte und fühlte sich ein wenig steif und benommen, aber es war nicht schlimmer als daheim auf der Erde, wenn sie im Winter den ganzen Nachmittag lang auf dem zugefrorenen Teich Schlittschuh gelaufen war.
Meg blickte sich um. Sie war mutterseelenallein. Ihr Herz begann wild zu schlagen.
Da drang von überall her Frau Dergestalts unverwechselbare Stimme an ihr Ohr:
»Ichh hhabe dirr mmein Geschennk nnoch nichtt gegebenn. Ddu besitztt etwass, dass ES nnicht hatt. Ddas istt deinne einzigge Wwaffe. Aberr ddu mmußt sie sselber findenn.«
Die Stimme verstummte, und Meg wußte, daß sie nun auf sich allein gestellt war.
Langsam stieg sie den Hügel hinab. Das Herz pochte ihr schmerzhaft gegen die Rippen. Dort unten standen die Reihenhäuser, eines wie das andere, und dahinter begann die Innenstadt mit ihren großen Gebäudequadern.
Meg ging durch die stillen Straßen. Es war dunkel, und niemand war zu sehen. Diesmal spielten die Kinder nicht mit dem Ball und der Springschnur. An den Haustüren warteten keine Mutterpuppen. Die Vaterpuppen waren längst von der Arbeit heimgekehrt. Erst brannte in jedem Haus hinter einem bestimmten Fenster Licht, aber als Meg weiterging, verlöschten schlagartig alle Lichter. Lag das an Megs Kommen, oder war es soeben Schlafenszeit geworden?
Sie fühlte sich wie betäubt; sie hatte den Zorn, die Enttäuschung und die Angst hinter sich gelassen. Gleichmäßig setzte sie einen Fuß vor den anderen und gestattete sich kein Zaudern. Sie dachte an nichts; sie hatte keinen Plan; sie ging einfach – langsam, aber beständig – auf die Stadt zu, dem Kuppelbau entgegen, in dem ES lag.
Schon hatte sie den Rand der Innenstadt erreicht. Durch jedes Gebäude zog sich ein senkrechter Lichtstreifen, aber das Licht war matt und gespenstisch, nicht so heimelig wie ein erhelltes Treppenhaus daheim auf der Erde. Hier fehlten auch die einzelnen Lichtpunkte der Fenster, hinter denen jemand noch spät am Schreibtisch saß oder ein Büro aufräumte.
Zwischendurch kam aus jeder Einfahrt ein Mann, vielleicht ein Nachtwächter, und schritt vor seinem Gebäude die Front ab, ohne Meg zu erkennen, jedenfalls ohne sie zu beachten. Unbehelligt kam sie an den Männern vorbei.
»Was könnte ich besitzen, das ES nicht hat?« überlegte sie. »Was könnte das sein?«
Mittlerweile hatte sie die Reihen der Hochhäuser erreicht. Wieder die senkrechten Lichtstreifen. Auch die Fassaden schimmerten
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