Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
offiziell um Yvore. Unter dem Protest ihrer Freundinnen und Adellas Hinweis, dass sie ihre Pause nicht so vergeuden sollte, folgt Patience mir und Mali in den Stall. Ich lasse das Tor offen, alles andere wäre auffällig. Kaum eingetreten, dreht sich Patience zu mir um.
»Worum geht es?« Ich lehne mich gegen Hazels leere Box und sehe sie an.
»Adella und Rhoda wollen heute Abend in die Stadt«, beginnt Patience vorsichtig.
»Aha«, sage ich. Ich weiß, worauf sie hinaus will.
»Am Piccadilly Circus wird es eine Damnatio geben. Die beiden dürfen zusehen und ich würde gerne mitfahren.«
Gut, damit habe ich nicht gerechnet. Ein einziges Mal war ich während einer Damnatio am Piccadilly Circus, dem riesigen, gemauerten Platz in der Mitte der Stadt. Auf den Leinwänden habe ich die Gesichter der Delinquenten gesehen. Einmal und nie wieder, das habe ich mir geschworen. Überrascht schaue ich Patience an. Sie hat ein Pokerface aufgesetzt.
»Das willst du dir angucken?«, frage ich.
Patience sagt weder ja noch nein. »Alle tun es«, rechtfertigt sie sich.
»Du nicht«, antworte ich und wende mich der nächsten Box zu. Bis Mittag müssen alle Pferde draußen sein und einige von ihnen bocken nur zu gern, auch wenn sie genau wissen, dass es auf der Koppel Futter gibt.
»Bitte, Jo.« Patience folgt mir. »Es ist doch nur ein Abend. Und Rhodas Dad wird sogar auf uns aufpassen.«
»Er kann auf deine Freundinnen aufpassen, damit hat er genug zu tun.« Ich führe einen braunen Wallach auf den Mittelgang, aber weiter komme ich nicht, denn Patience steht uns im Weg. »Ich habe Nein gesagt. Und jetzt geh bitte raus, bevor jemand nach dir suchen kommt.«
Patience sieht mich flehentlich an. »Überleg es dir. Es geht mir doch gar nicht um die Hinrichtung. Ich will nur einen einzigen Abend erleben, der nicht so -«
»Sicher ist?«, frage ich sie.
Patience senkt den Blick und fährt dem Wallach mit den Fingern durch die Mähne. »Das ist dann wohl ein endgültiges Nein«, stellt sie ein bisschen bedauernd, ein bisschen beleidigt fest.
»Genau«, sage ich, denn ich kann es mir nicht leisten, meine Meinung zu ändern.
***
Ich starre aus dem Fenster in die Dunkelheit. In der Fensterscheibe begegne ich der Spiegelung meiner ernsten blauen Augen. Unter mir winden sich die Pfade des Internatparks. Sie sind mit kleinen Lampions beleuchtet und doch so tückisch, so gefährlich. Ich kenne jeden Meter der Grünanlage, jede Trauerweide, jede Esche und Erle. Ich weiß um die Verstecke, die es dort unten gibt, die dunklen Nischen, die gerade einmal groß genug für einen Menschen sind.
Neben mir hebt Mali den Kopf und beginnt, leise zu knurren. Schon den ganzen Nachmittag über hat sie sich so seltsam verhalten und mich nervös gemacht. Ich streichle ihr den Kopf und werfe einen Blick zu der Verbindungstür zwischen meinem und Patience’ Zimmer. Dass die Tierpflegerin gleich neben einem der reichsten Kinder der Schule wohnen darf, hat ihr Vater eingefädelt. Seine Tochter sei nachts nicht gern allein, ihre Freundinnen sollten davon aber nichts wissen, da sie sich sonst nur lustig machen würden. Ich werde dafür, dass ich nachts für sie bereitstehe, von der Schule zusätzlich bezahlt. Was für eine Ironie.
Normalerweise liegt Mali immer auf der Schwelle zu Patience’ Schlafraum und lauscht auf jedes verräterische Geräusch. Doch heute hat es ihr das Fenster angetan. Nein, wohl vielmehr der dahinter liegende Park.
Ich reiße mich von der nächtlichen Schwärze los und lege Mali ihr Halsband um. Auch wenn es mir nicht behagt, Patience allein zurück zu lassen, muss ich mich vergewissern, dass auf dem Grundstück keine Gefahr lauert. So leise ich kann, öffne ich die Tür zu ihrem Schlafzimmer und spähe hinein. Patience liegt auf dem Rücken, das Haar fällt ihr in goldenen Wellen über die Schultern und ihre Wangen haben einen rosigen Ton angenommen. Optisch bin ich das genaue Gegenteil von ihr – mein Gesicht ist stets blass, meine Lippen sind voller als ihre, dafür nicht so fein geschwungen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ich ein so friedliches Bild abgebe, wenn ich mal schlafe. Ich muss lächeln. Patience ist so unbedarft. Und so soll es auch bleiben. Ich schließe die Tür wieder, verriegle sie. Mali knurrt noch immer. Es ist ein tiefes, drohendes Grollen, das mir einen Schauer über den Rücken jagt.
»Komm«, flüsterte ich und Mali ist mit einem Satz an meiner Seite.
Die kühle Luft beruhigt meine
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