Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
zu schreiben. Heute veröffentlicht sie regelmäßig Fantasyromane und erzählt immer noch Gute-Nacht-Geschichten …
Nicht genug bekommen?
Leseprobe aus »Watcher. Ewige Jugend«, dem ersten Band der Niemandsland-Trilogie von Nadine d'Arachart und Sarah Wedler
London, wie es die Großväter unserer Großväter einmal kannten, gibt es nicht mehr. Mit den Jahren hat die Stadt alles um sich herum verschlungen. Sie hat ihre langen Spinnenbeine bis nach Oxford und Dover ausgestreckt und sich jede Großstadt, jeden Vorort, jede Wiese, jeden Wald und jede Weide einverleibt. Dort, wo einst Manchester und Liverpool lagen, herrscht nun Ödnis. Seen haben sich in Sümpfe und Flüsse in verdorrte Flussbetten verwandelt. Wälder gibt es da draußen nicht mehr, nur noch vereinzelte Bäume, karg und unfruchtbar, brachliegende Äcker und Bauten, einsturzgefährdet wie Kartenhäuser. Wer ein Huhn hat, kann sich glücklich schätzen. Wer eine Kuh hat, sollte vorsichtig sein und wer gleich mehrere Tiere besitzt, muss um sein Leben bangen. Das Gebiet vor den Toren Londons, das Hunger und Armut in eine Wüste verwandelt haben, nennt sich Niemandsland.
London selbst ist schillernd, voller Prachtbauten, Parks und kleiner Seegebiete. Zwölf Millionen Menschen leben darin und jeder Einzelne von ihnen hat entweder Glück oder Pech gehabt.
Die Glücklichen sind die Industriellen , sie bewohnen den grünen Kern. Dort residieren sie in ihren Villen mit ihren überdimensionalen Gärten, treffen sich zum Cricket und bevölkern die Malls. Auch ihre Kinder sind glücklich. Sie gehen auf das Internat in dem Stadtteil, der früher Oxford war und jetzt Neu-Oxford heißt und übernehmen irgendwann die Konzerne ihrer Väter. Alles ist nach Erbfolge geregelt. Kein Industrieller wird jemals arm sein – und kein Arbeiter jemals reich.
Die Arbeiter machen den Teil der Londoner aus, der Pech gehabt hat. Die meisten von ihnen leben in Highworth, einer Siedlung, deren Straßen so eng sind, dass dort kaum geatmet werden kann. Sie gehört nicht zum schillernden Teil Londons. Die Wohntürme von Highworth kann man bis ins Zentrum sehen – Kastenbauten aus Beton, so gut wie fensterlos, denn das kostbare Glas aus Londons einziger Glashütte wird für das schicke Geschäftsviertel gebraucht. Die Arbeiter wissen, dass es sie schlimmer hätte treffen können, also verhalten sie sich still. Nehmen alles hin, sogar den beißenden Dampf der Industrie, der Tag für Tag von zu ihnen herüberwallt.
Die Industrie liegt an der Grenze zum Niemandsland und es wird penibel darauf geachtet, dass ihre giftigen Gase nicht nach Neu-Oxford wehen. Ihre Kinder sind den Industriellen fast so heilig wie sie selbst, deshalb schützen sie sie. Vor allem die besonderen Kinder. Aus diesem Grund gibt es uns – die Watcher.
Ich bin Jolette Somerville. Ich gehöre nicht zu den Glücklichen, nicht zu den Unglücklichen, und auch nicht zu den Todgeweihten aus dem Niemandsland. Ich gehöre zu den Aufpassern in einer abgeschotteten Stadt. Einem Ort, an dem alles perfekt ist. Augenscheinlich.
***
Ich streiche mir das schweißfeuchte Haar aus der Stirn, ziehe meinen Pullover aus und wickle ihn um meine Hüften, damit niemand mein Messer sieht. Die Sonne scheint schräg durchs Fenster und meine Kleider kleben an meinem Körper wie eine feuchte zweite Haut. Im Gegensatz zu den Klassenräumen sind die Flure nicht klimatisiert und bald, wenn es Mittag ist, wird es unerträglich heiß sein. Zum Glück bekomme ich vorher eine kleine Atempause an der frischen Luft.
Vorsichtig nähere ich mich der Tür zu Raum 106. Unter den glänzenden Messingziffern ist ein Fensterchen eingelassen, verziert mit weißen Spitzengardinen. Offiziell ist das Fenster zur Zierde da, inoffiziell hilft es mir, meine Arbeit zu machen. Behutsam spähe ich hindurch. Die Lehrerin steht keine drei Meter von mir entfernt vor der Klasse. Sie trägt die gleiche Uniform wie die Schüler, nur ist sie schwarz, während die Kleidung der Schüler das Rot von reifen Äpfeln hat. Mit ihren gestärkten Kragen und den Schleifen über der Brust sehen die Mädchen alle irgendwie gleich aus. Die Jungen haben anstatt der Schleifchen Fliegen um – als wollten sie gleich nach dem Unterricht auf einen Ball gehen.
Die Lehrerin bemerkt mich nicht, ist in irgendeine Erklärung vertieft, die ich hier draußen nicht verstehen kann. Die meisten Schüler starren durch die Gläser ihrer Datenbrillen ins Leere, vermutlich verfolgen die wenigsten
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