Die Zeitwanderer
des Grabmals lag, und betrachtete ihn einen Augenblick lang. Kein Atemzug bewegte seine Brust, kein Pulsschlag zuckte an seinem Hals. Nur um sicher zu sein, drückte Kit seine Fingerspitzen leicht gegen das Handgelenk von Sir Henry und dann an die Seite seines Halses.
»Es tut mir leid, Giles«, sagte er.
»Wir können ihn nicht so lassen«, meinte der Kutscher. »Wir sollten etwas unternehmen.«
»Kommt, wir können ihn in den Sarkophag legen.«
Gemeinsam hoben sie die Leiche hoch und trugen sie zu dem riesengroßen Granitsarg in der Mitte des Raumes. Langsam ließen sie den Körper herab und legten ihn vorsichtig neben Cosimo. Dann richteten sie die Gliedmaßen des Adligen gerade und falteten seine Hände über die Brust.
»Freunde im Leben«, sagte Kit. »Jetzt können sie im Tode einander Gesellschaft leisten.«
Während er noch sprach, hörte er, wie drüben aus dem Vorraum das Geräusch von leichten Schritten widerhallte: Jemand stieg auf den Stufen ins Grabmal herab. Wer auch immer es war, er bewegte sich rasch und leise.
Kit stürzte zum Eisengitter. »Burleigh! Lasst uns heraus. Uns zu töten ergibt keinen Sinn. Das ist Wahnsinn! Lasst uns heraus.« Er hielt inne, um zu lauschen. Die Schritte kamen ins Stocken, als der Eindringling den Vorraum betrat und offenkundig stehen blieb. Dann war das rasche Getrappel von Füßen zu vernehmen, als der Neuankömmling durch den leeren Raum eilte. »Burleigh! Hört Ihr mich?«
»Kit? Bist du da drin?«
Die Stimme war weich und weiblich. Und trotz allem, was geschehen war, seit er in einer von der Grafton Street abzweigenden Gasse die einzige Welt verlassen hatte, die er bis zu jenem Zeitpunkt jemals gekannt hatte, erkannte Kit die Stimme sofort wieder. »Wilhelmina!«
Und da war sie: Wilhelmina, sonnengebräunt und strahlend, starrte ihn durch das Gitter an. Sie trug einen Militär-Overall mit Reißverschluss und Wüstentarnmuster; ihr langes Haar war nach oben unter einem himmelblauen Kopftuch gesteckt, das sie in der Art ägyptischer Frauen trug. Wie immer war sie groß und schlank, doch die dunklen Halbkreise unter ihren Augen waren verschwunden, und ihre Haut leuchtete - Zeichen einer robusten, guten Gesundheit. Sie hielt einen kleinen, ovalförmigen Gegenstand aus Messing in der einen Hand und in der anderen einen großen Eisenschlüssel. Der Gegenstand strahlte ein weiches türkisfarbenes Glühen aus.
»Hast du genug von Burleighs Gastfreundschaft?«, fragte sie mit einem Lächeln.
»Ich kann es nicht glauben«, erwiderte Kit. »Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen - dich und deine Freunde.« Sie steckte den Schlüssel in das Schloss; als er sich nicht einfach herumdrehen ließ, rüttelte sie an ihm.
»Mina! Mina, ich habe versucht, dich zu finden. Ich habe dich niemals aufgegeben; das musst du mir glauben. Ich wusste nicht, wo du warst oder wie man dich erreichen konnte. Cosimo ist zurückgegangen, um nach dir zu suchen, aber du warst nicht da, und so haben wir Sir Henry um Hilfe gebeten. Genau darum ist all das passiert - um zu versuchen, dich zu finden.«
»Und hier bin ich und finde dich«, erklärte sie mit einem süßen Lächeln. »Wir sollten uns besser beeilen. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Aber wie ...?«
Giles steckte den Kopf um die Ecke. »Sir?«
»Oh, Giles, kommt zu uns.« Kit stellte beide miteinander vor: »Dies ist Wilhelmina Klug. Mina, Giles Standfast.«
»Freut mich, Euch kennenzulernen, Giles«, sagte Wilhelmina.
»Ein unerwartetes Vergnügen, Mylady«, entgegnete Giles.
Wilhelmina hantierte erneut am Schlüssel und schaffte es schließlich, ihn herumzudrehen. Das Schloss klickte. Sie zog an der Tür, und das schwere Eisengitter schwang auf und gab die Gefangenen frei. Kit trat hinaus und hinein in Wilhelminas Arme: Ihre Umarmung war allerdings die etwas zögerliche und ungeschickte Umklammerung von vertrauten Fremden.
In diesem Moment begriff Kit, dass Mina nicht mehr die Frau war, die er kannte; die Veränderung war grundlegend und tiefgreifend. »Danke schön, Mina«, flüsterte er und hielt sie nah an sich; er versuchte, etwas von ihrer alten Vertrautheit wieder einzufangen.
»Ist mir ein Vergnügen«, erklärte sie und ließ ihn los. »Wir sollten sehen, dass wir von hier fortkommen.«
»Es tut mir leid, dass ich dich verloren habe, dass ich jeden in dieses Durcheinander hineingezogen habe ... Es tut mir leid wegen ... wegen allem.«
»Das sollte es nicht«, erwiderte sie strahlend.
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