Die Zuflucht der Drachen - Roman
sie dich nicht einmal kennen?«
»Einer von ihnen könnte ein einsamer Milliardär sein, wer weiß? Ich habe das Gefühl, dass dies mein Glücksjahr wird.«
Kendra musterte ihren Bruder. Selbst in der kurzen Zeit seit dem Sommer hatte er sich verändert und sah weniger wie ein Kind aus. Mit seinen schlaksigen Armen und Beinen schoss er immer weiter in die Höhe, sein Gesicht wirkte schlanker, und sein Kinn war markanter geworden. Sie hatten diesen Herbst nicht viel Zeit füreinander gehabt. Er hatte seinen eigenen Freundeskreis, und sie hatte genug damit zu tun, sich auf der Highschool einzuleben. Und jetzt standen die Weihnachtsferien vor der Tür. Eine Woche war es noch bis dahin.
»Mach keine Dummheiten«, ermahnte ihn Kendra.
»Danke für den tollen Ratschlag«, erwiderte Seth. »Darf ich den in mein Tagebuch schreiben?«
»Führst du ein Tagebuch?«
»Ich werde damit anfangen müssen, wenn du weiterhin so kostbare Perlen der Weisheit von dir gibst.«
»Ich weiß den perfekten ersten Eintrag«, fauchte Kendra und funkelte ihren Bruder an. »Liebes Tagebuch, heute habe ich mir von dem Gold, das ich aus Fabelheim gestohlen habe, die verrücktesten und teuersten Weihnachtsgeschenke gekauft. Ich habe vorgegeben, die Geschenke würden von entfernten, milliardenschweren Verwandten stammen, aber niemand ist darauf reingefallen, und die Ritter der Morgenröte haben mich geschnappt und mich in einen schmuddeligen Kerker gesperrt.«
Mehrmals öffnete und schloss Seth lautlos den Mund und setzte zu verschiedenen Antworten an, die er aber allesamt wieder verwarf. Nach einem Räuspern brachte er schließlich hervor: »Das kannst du nicht beweisen.«
»Wie hast du es bloß geschafft, das Gold herauszuschmuggeln?«, rief Kendra. »Ich dachte, Opa hätte den Schatz beschlagnahmt, den du und die Satyre den Nipsis abgenommen habt.«
»Auf dieses Gespräch lasse ich mich nicht ein«, beharrte Seth. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Du musst mehrere Verstecke gehabt haben, und Opa hat sie nicht alle gefunden. Aber wie willst du Gold und Juwelen zu Bargeld machen? Beim Pfandleiher?«
»Das ist doch alles Quatsch.« Seth ließ nicht locker. »Klingt für mich ganz so, als wärst du diejenige mit der kriminellen Energie.«
»Du schlägst dich wacker, aber ich habe dich durchschaut. Dieses Gold hat nicht Newel oder Doren gehört, und sie hatten kein Recht, es dir zu geben! Wie konntest du nach allem, was im letzten Sommer passiert ist, einfach mit gestohlenen Schätzen in den Taschen durch die Tür marschieren? Hast du überhaupt kein Ehrgefühl?«
Seufzend gab Seth sich geschlagen. »Opa und Oma haben keinen Gebrauch davon gemacht.«
»Richtig, Seth, weil sie nämlich die Verwalter von Fabelheim sind. Sie versuchen, die Geschöpfe und Gegenstände, die dort versteckt sind, zu beschützen. Du hättest genauso gut etwas aus einem Museum stehlen können!«
»Du meinst, so wie du es getan hast, als du den Regenstock aus der Verlorenen Mesa mitgenommen hast? Oder wie Warren, als er das Schwert behielt, das er dort gefunden hat?«
Kendra wurde rot. »Genaugenommen war die Bemalte Mesa nicht Teil des Reservats der Verlorenen Mesa. Außerdem verhökere ich den Regenstab nicht, um mir ein Jetboot zu kaufen! Und Warren versucht nicht, das Schwert gegen ein Schneespeeder einzutauschen! Einer der Gründe, warum wir diese Gegenstände haben, besteht darin, sie zu beschützen, statt sie für einen Bruchteil ihres Werts zu verkaufen!«
»Komm mal runter, ich hab das Gold ja immer noch.«
»Vielleicht solltest du es mir zur Aufbewahrung geben.«
»Wohl kaum«, schnaubte Seth. Er sah sie widerwillig an. »Aber ich werde den Schatz Opa zurückgeben, wenn wir das nächste Mal in Fabelheim sind.«
Kendra entspannte sich. »Damit kann ich leben.«
»Da ich mit der größten Petze der Welt zusammenlebe, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Aber vielleicht kann ich dich ja bestechen? Hältst du dann den Mund? Ich könnte dir ein paar umwerfende Weihnachtsgeschenke besorgen.«
»Danke, ich brauche keinen Hängegleiter.«
»Es könnte alles Mögliche sein«, lockte Seth. »Kleider, Schmuck, ein Pony – was immer du dir an blödem Mädchenplunder so wünschst!«
»Vor allem wünsche ich mir dieses Jahr, dass mein kleiner Bruder endlich genug Verstand entwickelt, damit ich nicht mehr sein Babysitter sein muss.«
»Ich könnte immer noch einen Teil von dem Gold dazu verwenden, ein paar Ganoven anzuheuern, die dich entführen und
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