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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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die Simon-von-Utrecht-Straße.
    «Ob hier überhaupt noch was ist? Das sieht doch ganz tot aus.»
    «Weiß ich auch nicht, wir gucken mal. Irgendwas wird schon sein.»
    Wir passierten ein paar Saufkneipen, bis Janne vor einem unscheinbaren Laden stehenblieb.
1900 – Disco & Dancing.
    Sie schaute mich fragend an.
    «Das könnte was sein. Der Name ist jedenfalls schon mal gut.»
    «Von mir aus.»
     
    Obwohl es erst halb zwei ist, wirkt es, als wäre im
1900
der Zenit bereits überschritten. Alles erinnert an die längst wieder aus der Mode gekommenen After-Work-Partys, bei denen die Gäste spätestens um Mitternacht von CD-DJ Frank oder Kassetten-DJ Stumpi zum Inga-und-Wolf-Klassiker«Gute Nacht, Freunde» hinauskomplimentiert werden. Samtrote Plüschlandschaften säumen die chromblitzende Tanzfläche, der Tresen ist Eiche rustikal. Man hat das Gefühl, irgendwo im Niemandsland der norddeutschen Tiefebene gelandet zu sein, wo die Zeit über weite Gebiete bekanntlich Ende der Achtziger stehengeblieben ist und Diskotheken, in denen sich hinterkopflose Freizeitbodybuilder und Provinz-Gangsta-Rapper das Revier teilen,
Mausefalle
oder
Zeppelin
heißen. Wir holen uns Caipirinha (nur 7   Euro!) und gehen zu einem der überdimensionalen Sofahaufen, in dessen hinterster Ecke eingesackt ein junger Mann SMS tippt. Im vorderen Teil der
Sitzlandschaft
lümmelt eine Clique, vier Jungen, drei Mädchen. Wir pflanzen uns dazwischen, Beobachterposition, genau das Richtige.
    Der SM S-Tipper , ein schmächtiger Normalo, passt genauso wenig hierher wie wir. Vielleicht ist er der Bruder von der Freundin von irgendjemandem, einer, den man ab und an aus Mitleid mitnimmt und dann vergisst. Seine Leute sind vor einer halben Stunde weitergezogen, sie haben ihn pro forma gefragt, ob er noch mitmöchte, doch er fühlt sich heute besonders schlecht und bleibt lieber hier. Er wartet ab, vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder.
    Die Clique ist bei näherem Hinsehen keine Clique, aber eventuell auf dem Weg dahin, noch sind es zwei getrennte Gruppen, eine Jungen- und eine Mädchenclique. Die Jungen sind aus Bergedorf und ziehen bereits seit neun über den Kiez. Machen sie fast jedes Wochenende so, von einem Laden zum nächsten, wenn sie reingelassen werden. Mädchenjagd nennen sie das etwas übertrieben, denn sogut wie nie ist die Jagd von Erfolg gekrönt. Aber vorhin hat mal was geklappt: Im
Thomas Read
, einer Diskothek ähnlich dem
1900
, nur viel größer, hat der Anführer, ein bulliger Schlägertyp mit eng zusammenstehenden Augen und Ohren, die aussehen, als hätte sich mal ein Kampfhund in ihnen verbissen, die Mädchenclique angesprochen und überredet, gemeinsam mit ihnen weiterzuziehen. Erst wollten sie nicht, weil die Typen nicht ihre
Liga
sind, aber eins der Girls hat mal gehört, das
1900
sei ein geiler Laden, egal, ist noch früh, gehen wir mal mit. Der Anführer hat einen schneeweißen NIK E-Trainingsanzug an und ist behängt mit goldenen Ketten, Ringen, Kreuzen, dem typischen Plunder aus der Asservatenkammer amerikanischer Hiphop-Videos. Wie zwei seiner drei
Kollegen
ist er Halbtürke oder Halbgrieche oder Halbirgendwas; komplettiert wird die Gruppe von einem Milchbubi, den sie «Affe» nennen und dafür verachten, dass er Deutscher ist und sich Affe nennen lässt.
    Die Mädchen sitzen in der Mädchenecke und die Jungen in der Jungenecke, wie in der Berufsschule. NIKE betrachtet sich als Anführer, daher ist es auch sein Job, die Mädchen in Stimmung zu bringen. Er ist nervös und hat für ein halbwegs menschenwürdiges Gespräch schon zu viel getrunken. Viel erwarten die Girls nicht, aber NIKES Asigestammel ist nun wirklich unter aller Sau. Er lernt es einfach nicht. Anstatt erst um elf oder zwölf loszuziehen und sich sauftechnisch wenigstens am Anfang zurückzuhalten, macht er immer wieder die gleichen, vermeidbaren Fehler. Und nun hat er Angst, dass die Girls kommentarlos aufstehen und einfach gehen oder, viel schlimmer, sich anderenTypen anschließen, die längst schon auf der Lauer liegen und auf ihre Chance warten. «Das wär ja wohl noch schöner, wenn solche Prolls die geilen Weiber hier abschleppen!» Die Entrüstung ist echt. NIKE hat es auf die kleine, feenhafte Halbasiatin abgesehen, die von einer blondierten Sexbombe mit Riesenglocken (echt) und einer Brünetten ohne besondere Kennzeichen flankiert wird. Mit ihren Hüfthosen und den weit ausgeschnittenen Blusen sehen die Girls aus wie Laiendarstellerinnen aus

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