Die Zunge Europas
ungestraft davon. «Fotzen, Scheißfotzen.» Verdammte Schlampen, wie die ihre Scheißärsche spazieren führen, als ob nichts wäre.
Die Mädchen sind den ganzen Abend von Typen wie NIKE angemacht worden, nervig, aber so ist das nun mal. Sie unterschätzen die Situation.
«Na, ihr kleinen Drecksscheißen (als er nach einer weiteren Steigerung zu «Fotze» sucht, kommt er auf «Drecksscheißen»), von wem lasst ihr euch gleich durchficken?»
Sie gucken genervt weg. Seine Beschimpfungen werden immer wüster.
«In den Arsch gefickt werden wollt ihr, richtig schön, stundenlang hart in den Arsch.»
Genau, das wollen sie, am besten augenblicklich und von irgendjemand Hergelaufenem. Einzige Ausnahme: NIKE.
«Guckt nicht so bescheuert. Fleischnutten.»
Nächste Steigerung: Fleischnutten, das klingt besonders hart und scheiße. Büßen sollen sie! Dumpf grollend fährt die Bahn ein. Die Mädchen wollen den dritten Wagen von vorn erwischen, weil der am Jungfernstieg direkt an der Treppe hält, die zur U1 hochführt. Die Robuste packt ihr Handy in die Handtasche; als sie wieder hochschaut, sieht sie gerade noch, wie NIKE ihrer Freundin einen Schubs gibt, zum Glück nicht besonders kräftig. Sie bekommt die Kleine irgendwie an der Schulter zu fassen, die Mädchen krallen sich aneinander fest und lassen sich fallen. Sie haben noch gar nicht richtig begriffen, was passiert ist. NIKE bleibt wie angewurzelt stehen. Mein Gott, was hat er nur gemacht! Er dreht sich um und rennt weg, so schnell er kann. Nach ein paar Metern reißt er die Hände vors Gesicht, weil ihm einfällt, dass überall Kameras laufen. Seine Kollegen rennen hinterher. NIKE läuft die Holstenstraße hoch, er schlägt Haken, macht kleine Sätze, wie ein Hase, o nein, o nein, o nein, er weiß, dass sie ihn erwischen werden. Er rennt und rennt und rennt, bis zur S-Bahn Königstraße, dann verlassen ihn die Kräfte, er bleibt stehen, verschnauft und kehrt zu seinen Kollegen zurück, die längst schlappgemacht haben und auf ihn warten.
Sie brauchen bis zum Mittag, um sich halbwegs wieder einzukriegen, dann fahren sie zurück nach Bergedorf. Die Fotos der Überwachungskameras werden veröffentlicht,man sieht jedes Detail, es ist wirkich unglaublich. Am Freitag stellt NIKE sich freiwillig, der Fahndungsdruck ist unerträglich geworden. Jetzt sitzt er da, wo er hingehört, und es geht ihm so gut wie noch nie in seinem Leben. Ach, könnte er nur ewig hierbleiben!
Es war längst hell. Sehr hell. Ich schüttete das Bier auf die Pflastersteine.
«Ich kann nicht mehr.»
«Ach Quatsch. Wir müssen die Schleife vollmachen. Los, komm.»
«Welche Schleife vollmachen? Was redest du denn da? Ich kann nicht mehr.»
«Doch, kannst du. Die Schleife nicht vollmachen bringt Unglück.»
«Schleife. So ein Schwachsinn.»
«Los, komm jetzt.»
«Jaja, von wegen.»
Mit hängenden Schultern trottete ich hinter ihr her. Wir überquerten die Reeperbahn, und Janne blieb vor dem
Elbschlosskeller
stehen. Der
Elbschlosskeller
heißt Elbschlosskeller, weil er im Keller liegt. Ich wollte da nicht rein. Vielleicht ein anderes Mal. Zu spät, sie ging die Stufen hinunter.
In der durchgehend geöffneten, lichtlosen Kaschemme ist die Stimmung zu jeder Tages- und Nachtzeit gleich, über so etwas wie Uhrzeiten ist man hier längst hinweg. Die Hälfte der über den Daumen gepeilt fünfzehn Gäste saß vornübergebeugt auf ihren Stühlen und pennte, einige starrten hospitalismuswippend vor sich hin undquittierten unsere Ankunft mit unverständlichen Grunzlauten, eine ältere Frau schlurfte brabbelnd zwischen den Tischreihen hindurch. Eine gespenstische Mischung aus Männerwohnheim, Ü-Sechzig -Party, Tagesaufenthaltsraum in der Geschlossenen. Ich kam mir vor wie ein ekelhafter Gaffer.
«Ich finde das nicht richtig, hier zu sein.»
«Wieso?»
«Man darf die Menschen in ihrem Elend nicht stören. Man raubt denen doch das letzte bisschen Würde.»
«Ich weiß, was du meinst. Lass uns trotzdem ein wenig bleiben.»
Der Wirt war sogar im Gesicht tätowiert.
«So, was wollt ihr?»
«Zwei Holsten, zwei Rum.»
Ich:
«Schon wieder Bier? Und wieso auf einmal Rum? Ich kann bald nicht mehr.»
Am Tresen hockte ein Mann. Er hob kurz seinen Kopf und schaute uns aus verschwiemelten Augen an:
«Guck mal an, er kann nicht mehr. Wo kommt ihr überhaupt her? Aus Arschlochstadt. Ihr kommt aus Arschlochstadt.»
Dann hob er drohend seinen rechten Arm. Ich sah, dass es eine Prothese war. Aus welchem
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