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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Material die wohl gemacht werden? In Piratenfilmen sind Prothesen aus Eisen, mit einem Enterhaken dran, heutzutage werden die bestimmt aus irgendeinem leichten Kunststoff gefertigt, Aluminium oder Fiberglas. Ja, Fiberglas, das klingt gut, Fiberglas klingt immer gut.
    Der Wirt mischte sich ein:
    «Ey, Käpt’n, für heute reicht’s. Lass gut sein. Du weißt, was sonst los ist.»
    Käpt’n? Vielleicht wegen der Prothese, Kürzel für Käpt’n Ahab.
    «Du nimmst jetzt deine Frau, und dann haut ihr schön ab. Gibt nichts mehr.»
    Seine Frau? Das unförmige Geschöpf, das neben ihm saß und leise vor sich hin röchelte, sollte seine Frau sein? Als sie nicht reagierte, quasselte er auf sie ein. Er quasselte und quasselte und quasselte, es klang wie eine Geheimsprache, deren Intonation man erst einmal auf sich wirken lassen muss, um sie verstehen zu können. Dann wandte er sich wieder an uns:
    «Hab ich recht, ihr kommt aus Arschlochstadt?»
    Der Wirt ist gewohnt, dass der Käpt’n ab und an Zufallsgäste anpöbelt. Eigentlich mag der Wirt Zaun- und Zufallsgäste auch nicht, aber was soll er machen? Außerdem geben die wenigstens Trinkgeld.
    «Nicht drauf achten, ist egal.»
    Der Käpt’n ließ nicht locker.
    «Ist egal, ist egal. Alles egal. Gib ihm doch ’n Malzbier. Und dann sollen die abhauen, wieder nach Arschlochstadt zurück.»
    Janne zog mich am Ärmel in den hinteren Teil des Ladens. Der Käpt’n folgte uns mit seinen Blicken; um aufzustehen und uns weiter zu beschimpfen, fehlte ihm die Kraft. Eingemauert in den Wahnsinn blieb er sitzen, nur um seine Mundwinkel zuckte es gelegentlich.
    «Ich weiß nicht, ob ich das Bier noch schaff.»
    «Da denkst du jetzt ernsthaft drüber nach, stimmt’s?»
    «Ja, da denk ich ernsthaft drüber nach. Aber ich denk auch noch über ganz andere Sachen nach.»
    «So, worüber denn noch?»
    «Vis à vis (ich sagte tatsächlich vis à vis), im
Goldenen Handschuh
, da hat Fritz Honka in den siebziger Jahren die Prostituierten kennengelernt, die er anschließend mit zu sich nach oben genommen und zersägt hat.»
    «Ja, genau.»
    «Und jetzt hab ich gerade überlegt, ob Hitler damals in Wien auch in solchen Läden abgehangen hat.»
    «Wie kommst du denn da jetzt drauf? Außerdem hat Hitler doch keinen Alkohol getrunken.»
    «Neenee, erst später hat er nichts mehr getrunken. Aber im Männerwohnheim hat er wie alle anderen auch gesoffen.»
    «Das ist mir neu. Aber selbst wenn, worauf willst du hinaus?»
    «Beide hatten einen Schnurrbart und ungefähr dieselbe Statur, Honka war Nachtwächter und Hitler Postkartenmaler, quasi die gleichen Berufe, vom Ding her dieselben Voraussetzungen, Startbedingungen. Verstehst du?»
    «Ja.»
    «Hitler hat es gewollt, und die anderen haben es nicht gewollt.»
    «Aha.»
    «Ein ganzes Volk ist einer verhaltensgestörten Schießbudenfigur mit in den Untergang gefolgt. Ich sag dir eins: Darüber werden die Deutschen nie hinwegkommen, Hitler lässt die Deutschen nicht mehr los. Bald wird an der Stelle,wo man ihn verbrannt hat, seine morsche Faust einen Riss in die Erdkruste treiben. Kilometer weit schlägt das Höllenfeuer in den Himmel, und in der Flammenwand zeichnet sich sein Antlitz ab. Und dann sieht man es: Der Führer winkt seinem Volk, ihm zu folgen, wie der tote Kapitän Ahab auf Moby Dick verheddert in den Leinen seiner Mannschaft zugewinkt hat. Wie findest du das?»
    «Ganz gut. Da feilst du aber länger schon dran?»
    «Ja, egal. Aber ist doch gut. Die deutsche Seele dürstet nach Gleichschaltung, Erlösung, Blutopfer und Untergang. Und weißt du was?»
    «Nee, was denn?»
    «Das Nachtleben ist genau das, in genau der gleichen Reihenfolge.»
    Der Käpt’n begann erneut zu randalieren:
    «Was wollt ihr eigentlich. Haut doch ab nach Arschlochstadt. Oder gebt wenigstens einen aus.»
    Für den Wirt war es schwierig genug, den Laden im Griff zu behalten. Er beugte sich drohend zum Käpt’n hinüber.
    «Ey, ich sag’s nicht nochmal, lass die Leute in Ruhe. Du nimmst jetzt deine Frau und haust ab. Ich sag’s nicht nochmal. Du weißt ja, was sonst passiert!»
    DAS wusste der Käpt’n nur zu genau. Wenn er etwas wusste, dann das. Was schon alles passiert war, gerade passierte und noch alles passieren würde. Aber heute war ihm das egal, es machte ihm auch nichts, es sich im einzigen Laden zu verscherzen, in dem er noch geduldet wurde.
    «Wie seid ihr denn eigentlich drauf. Noch nicht mal einenausgeben. Arschlöcher, alles Arschlöcher. Aus

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