Die zweite Haut
beiden war je mit einem anderen verheiratet. Ich versichere Ihnen, Lieutenant, es gibt keine einfache Erklärung für diesen Kerl.«
»Nun, selbstverständlich wäre keine weitere Ehe erforderlich gewesen, damit Sie einen Halbbruder haben … oder einen richtigen Bruder, was das betrifft«, sagte Lowbock und sah Marty so direkt in die Augen, daß es einem Eingeständnis von etwas gleichgekommen wäre, den Blick abzuwenden.
Während Marty die Bemerkung des Detective verdaute, drückte ihm Paige unter dem Tisch wieder die Hand, eine Aufforderung, sich durch Lowbock nicht provozieren zu lassen. Er versuchte sich einzureden, daß der Detective lediglich eine Tatsache verkündete, was ja auch stimmte, aber es wäre immerhin anständig gewesen, wenn er bei derartigen Andeutungen wenigstens in sein Notizbuch oder zum Fenster hinausgesehen hätte.
Marty, der fast so steif antwortete, wie er den Kopf hielt, sagte: »Lassen Sie mich mal sehen … sieht so aus, als hätte ich drei Möglichkeiten. Entweder mein Vater hat meine Mutter geschwängert, bevor sie verheiratet waren, und sie haben diesen Bruder – diesen illegitimen Bruder – zur Adoption freigegeben. Oder als meine Eltern verheiratet waren, hat Dad mit einer anderen Frau herumgevögelt, die meinen Halbbruder zur Welt gebracht hat. Oder meine Mutter wurde schwanger, entweder bevor sie meinen Vater geheiratet hat oder danach, und diese ganze Schwangerschaft ist ein dunkles Familiengeheimnis.«
Lowbock, der den Blick konstant aufrechterhielt, sagte: »Tut mir leid, wenn ich Sie vor den Kopf gestoßen habe, Mr. Stillwater.«
»Das tut mir auch leid.«
»Sind Sie diesbezüglich nicht ein bißchen empfindlich?«
»Bin ich das?« frage Marty schneidend, obwohl er sich fragte, ob er nicht tatsächlich übertrieben reagierte.
»Manche Paare haben ein Kind bevor sie bereit sind, den Bund zu schließen«, sagte der Detective, »und die werden häufig zur Adoption freigegeben.«
»Meine Eltern nicht.«
»Wissen Sie das mit Sicherheit?«
»Ich kenne sie .«
»Vielleicht sollten Sie sie fragen.«
»Vielleicht tu ich das.«
»Wann?«
»Ich überlege es mir.«
Ein Lächeln, schwach und geschwind wie der Schatten eines Vogels im Flug, huschte über Lowbocks Gesicht.
Marty war sicher, daß er Sarkasmus in diesem Lächeln sah. Aber selbst wenn es um sein Leben gegangen wäre, hätte er sich nicht erklären können, weshalb der Detective ihn nicht als unschuldiges Opfer betrachten wollte.
Lowbock sah in seine Notizen und ließ das Schweigen eine Weile wirken. Dann sagte er: »Wenn dieser Doppelgänger nicht mit Ihnen verwandt ist, Bruder oder Halbbruder, können Sie sich dann diese bemerkenswerte Ähnlichkeit erklären?«
Marty wollte den Kopf schütteln, zuckte aber zusammen, als er die Schmerzen im Hals spürte. »Nein. Überhaupt nicht.«
Paige sagte: »Möchtest du ein Aspirin?«
»Ich habe Anacin genommen«, sagte Marty. »Es geht schon.«
Lowbock, der Marty wieder in die Augen sah, sagte: »Ich dachte mir nur, vielleicht haben Sie eine Theorie.«
»Nein. Tut mir leid.«
»Wo Sie doch Schriftsteller sind.«
Marty begriff nicht, worauf der Detective hinauswollte.
»Bitte?«
»Sie strengen Ihre Phantasie jeden Tag an. Sie verdienen Ihren Lebensunterhalt damit.«
»Und?«
»Ich dachte mir eben, Sie könnten dieses kleine Geheimnis selbst lösen, wenn Sie sich den Kopf zerbrechen würden.«
»Ich bin kein Detective. Ich bin schlau genug, daß ich mir Kriminalfälle ausdenken kann, aber ich kläre sie nicht auf.«
»Im Fernsehen«, sagte Lowbock, »ist der Kriminalschriftsteller – und was das angeht, jeder Amateurdetektiv – immer schlauer als die Polizei.«
»Im wirklichen Leben ist es aber nicht so«, sagte Marty.
Lowbock ließ einige Sekunden schweigend verstreichen und kritzelte derweil auf seinem Notizblock, bevor er antwortete: »Nein, da ist es nicht so.«
»Ich verwechsle Wirklichkeit und Phantasie nicht«, sagte Marty etwas zu schroff.
»Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen«, versicherte Cyrus Lowbock ihm und konzentrierte sich wieder auf seine Kritzelei.
Marty drehte vorsichtig den Kopf und sah Paige an, ob sie erkennen ließ, daß sie Feindseligkeit in Ton und Verhalten des Detective spürte. Sie betrachtete Lowbock mit nachdenklich gerunzelter Stirn, worauf es Marty gleich besserging: Vielleicht reagierte er doch nicht übertrieben und mußte nicht auch noch Paranoia auf die Liste der Symptome setzen, die er Paul Guthridge
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