Die zweite Haut
erreichen, wie er wollte. »Niemand außer der Polizei oder Paige. Laß sie bei mir, bei mir und Kathy wird den Kindern nichts geschehen. Herrgott, Marty, was ist denn da drüben passiert?«
»Und gib die Mädchen um Gottes willen keinem, auch keinem Polizisten, wenn Paige nicht dabei ist. Gib sie nicht einmal mir , wenn Paige nicht dabei ist.«
Vic Delorio wandte seinen Blick von dem hektischen Treiben der Polizisten ab und blinzelte überrascht.
In seiner Erinnerung konnte Marty die wütende Stimme des Doppelgängers hören, den Speichel von dessen Mund fließen sehen, als er sagte: Ich will mein Leben, meine Paige … meine Charlotte, meine Emily …
»Hast du verstanden, Vic?«
»Nicht einmal dir?«
»Nur wenn Paige bei mir ist. Nur dann.«
»Was …«
»Ich werde es dir später erklären«, unterbrach ihn Marty. »Alle warten auf mich.« Er drehte sich um und eilte die Einfahrt hinunter zur Straße, drehte sich aber noch einmal um und sagte: »Nur Paige.«
… meine Paige … meine Charlotte, meine Emily …
Zu Hause, in der Küche, wo er dem Beamten, der den Anruf entgegengenommen hatte und als erster am Tatort erschienen war, den Überfall schilderte, ließ sich Marty von einem Polizisten die Fingerabdrücke nehmen. Sie mußten seine Abdrücke von denen des Eindringlings unterscheiden können. Er fragte sich, ob er und der Andere diesbezüglich so identisch sein würden, wie sie es in jeder anderen Hinsicht zu sein schienen.
Paige unterzog sich dem Prozeß ebenfalls. Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß man ihnen die Fingerabdrücke nahm. Marty sah ein, daß es notwendig war, aber der ganze Vorgang kam ihm wie eine Verletzung ihrer Intimsphäre vor.
Nachdem er bekommen hatte, was er wollte, befeuchtete der Techniker ein Papierhandtuch mit Glykolreiniger und sagte, dieser würde die ganze Tinte entfernen. Er entfernte sie nicht. Sosehr Marty auch rubbelte, es blieben dunkle Flecken in den Hautrillen zurück.
Bevor er sich hinsetzte, um dem Beamten, der die Untersuchungen leitete, eine detaillierte Schilderung zu geben, ging Marty nach oben und zog trockene Sachen an. Außerdem nahm er vier Anacin.
Er drehte den Thermostat hoch, worauf es im Haus rasch zu warm wurde. Trotzdem bekam er ab und zu noch Anfälle von Schüttelfrost – hauptsächlich wegen der nervenzehrenden Anwesenheit so vieler Polizisten.
Sie waren im ganzen Haus verstreut. Manche trugen Uniformen, andere nicht, aber alle waren Fremde, in deren Anwesenheit sich Marty noch bedrängter fühlte.
Er hatte keine Ahnung gehabt, wie gründlich die Privatsphäre eines Opfers in Mitleidenschaft gezogen wurde, angefangen von dem Augenblick, wenn ein Schwerverbrechen gemeldet wurde. Polizisten und Techniker machten sich in Martys Arbeitszimmer zu schaffen und fotografierten den Raum, wo die gewalttätige Auseinandersetzung ihren Anfang genommen hatte, bohrten einige Kugeln aus der Wand, staubten Fingerabdrücke ab und nahmen Blutproben vom Teppich. Außerdem fotografierten sie den oberen Flur, die Treppe und die Diele. Sie glaubten, weil sie nach Spuren suchten, die der Eindringling möglicherweise zurückgelassen hatte, hätten sie das Recht, in jedem Raum oder Schrank herumzuschnüffeln.
Selbstverständlich waren sie in seinem Haus, um ihm zu helfen, und Marty war dankbar für ihre Bemühungen. Und doch war es peinlich, daß Fremde die zugegeben penible Art und Weise zu Gesicht bekamen, wie er seine Kleidungsstücke im Schrank nach Farben aufgehängt hatte – wie Emily; die Tatsache, daß er Pennies und Fünfcentstücke in einem Marmeladenglas sammelte wie ein kleiner Junge, der auf sein erstes Fahrrad spart; und andere unbedeutende, jedoch höchst persönliche Einzelheiten seines Lebens.
Und der Detective in Zivil brachte ihn mehr aus der Fassung als alle anderen zusammen. Der Mann hieß Cyrus Lowbock und löste eine komplexe Reaktion aus, die weit über Verlegenheit hinausging.
Der Detective hätte ein ausgezeichnetes männliches Model auf ganzseitigen Anzeigen für Rolls Royce, Fräcke, Kaviar und Maklerbüros abgegeben. Er war um die Fünfzig, schlank, hatte meliertes Haar, selbst im November eine sommerliche Bräune, eine schmale Nase, zierliche Wangenknochen und außergewöhnliche graue Augen. Mit seinen schwarzen Schuhen, grauen Cordhosen, dem dunkelblauen Strickpullover und dem weißen Hemd – eine Windjacke hatte er abgelegt – gelang es Lowbock, distinguiert und gleichzeitig athletisch auszusehen, aber die Sportarten,
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