Die zweite Kreuzigung
Kopfbedeckung, die nur die Augen frei lässt.
Gerald wandte sich um und rief Max Chippendale zu sich.
»Max, sehen Sie den Kerl ganz vorn? Er gehört den Imashaghen, der herrschenden Klasse, an. Der Kleinere zu seiner Rechten ist der Anislem, der Priester. Auf den müssen wir aufpassen. Wenn es Ärger gibt, dann steckt er dahinter.«
Die Tuareg warteten geduldig, bis die fünf Soldaten näher kamen. Es waren sämtlich schlanke, hochgewachsene Gestalten mit den scharfen grauen Augen der Wüstenbewohner. Hinter den Imashaghen standen ihre Gefolgsleute, während sich ein paar schwarze Sklaven zusammen mit den Frauen und Kindern furchtsam bei den Hütten drängten. Wenn Geralds Schätzung zutraf, lebten in der Ansiedlung etwa einhundert Seelen und vielleicht dreißig Kamele.
Als die Soldaten auf die Oase zuschritten, spürten sie nach dem langen Aufenthalt in der Wüste sofort, wie die Luft sich veränderte. Zuvor ätzend und trocken, wurde sie nun feucht und sanft, schmeichelte ihren Lungen wie Balsam oder Öl von den Olivenbäumen, die am jenseitigen Ufer des kleinen Sees wuchsen. Gerald atmete tief durch. Er hatte nur wenige Augenblicke, um den Anführer derTuareg zu überzeugen, dass sie in guter Absicht kamen. Kurz überschlug er, welchen Teil ihrer Rationen sie als Geschenk zum Zeichen ihres guten Willens entbehren konnten. Jeder der Tuareg-Männer trug ein kurzes Schwert an seinem linken Schenkel, und Gerald wusste, dass sie hervorragende Kämpfer waren, die auch mit dieser einfachen Waffe schreckliche Wirkungen erzielten. Außerdem notierte er bei sich, dass bei zwei der Imashaghen Gewehre, italienische Karabiner Carcano M91/38, hinter der Schulter hervorlugten.
Wenn es Ärger geben sollte, hatten er und seine Männer ihre Dienstpistolen und Teddy Clark, der das Browning-MG mit fester Hand zu führen verstand. Ein Massaker war das Letzte, was er sich wünschte. Wenn er die Wahl zwischen dem Leben eines seiner Soldaten und eines Angreifers hatte, dann wusste er, wofür er sich entschied. Aber er war sich nicht sicher, wie er weiter damit leben würde.
»Al-salam alaykum«,
rief er den überall gültigen muslimischen Gruß und fügte auf Tamasheq hinzu:
»Ma toulid?«
Der Mann in der Mitte, der seine Brüder weit überragte, musterte ihn unverwandt hinter seinem blauen Tuch. Er durchbohrte ihn förmlich mit seinen Augen, die weder nach links noch nach rechts abschweiften. Gerald stand stocksteif da und wartete auf eine Antwort.
Der Anislem, einen Koran demonstrativ in der rechten Hand, reckte sich zur Seite und flüsterte kurz etwas ins Ohr seines Herrn. Hinter Gerald waren die Soldaten zum Stehen gekommen. Er glaubte ihre Nervosität körperlich zu spüren, vielleicht war es aber auch nur seine eigene. Mit diesen Männern hatte er die aufregendsten Tage seines jungen Lebens verbracht. Sie hatten gemeinsam gekämpft, in denselben Sand gepisst, sich gegenseitig vor Fliegengeschützt und von Läusen gereinigt, waren gemeinsam auf der Suche nach Frauen ins Bordell gegangen. Wieder und wieder hatten sie zusammen die Wüste durchstreift und waren stets lebend zurückgekehrt.
Gerald wartete geduldig auf eine Antwort. Die Menschen in der Wüste lebten in einem fast zeitlosen Raum, wo sich von einem Jahr zum anderen, von einem Jahrhundert zum anderen kaum etwas veränderte. Kein Tuareg ließ sich von Fremden drängen. Schließlich aber fasste der Anführer einen Entschluss.
»Alaykum al-salam«
, antwortete er. »
Al-khayr ras, al-hamdu li’llah
.«
Langsam und mit Unterbrechungen erklärte Gerald nun, wer er sei und woher er mit seinen Männern komme.
»Min al-Qahira«
, sagte er, »von Kairo.« Selbst hier, tief in der Wüste, war Kairo ein Begriff. Der Tuareg hörte gleichmütig zu. Sein Blick verriet weder Kälte noch Wärme. Die übrigen Imashaghen warteten ab. Keiner rührte sich vom Fleck oder hob auch nur die Hand, um die Fliegen zu verscheuchen, die sie umschwärmten. Das waren Kel Tamasheq, sie standen stramm wie Gardesoldaten und blickten ohne erkennbare Regung starr vor sich hin.
»Menschen haben dieses Land erreicht, die keine Freunde der Muslime sind«, erklärte Gerald. »Sie verachten die Araber, weil sie angeblich einer minderwertigen Rasse angehören, sie hassen die Schwarzen, weil sie keine weiße Haut haben, sie schauen auf die Berber, die Tibu und die Kel Tamasheq herab, weil sie auf Kamelen reiten. In meiner Sprache nennt man diese Leute die Deutschen. Mein Volk ist hierhergekommen, um
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