Die Zwerge
Augen nahmen die feinen Unterschiede in den Wänden wahr; doch sobald er sich im Freien zurechtfinden sollte, versagte er jämmerlich und war ohne Karte verloren.
Nach kurzem Klopfen öffnete er die Tür. Lot-Ionan trug seine geliebte beige Robe und saß an seinem Schreibtisch. Anklagend hielt er ein tintengetränktes Blatt Papier in die Höhe, als der Zwerg eintrat.
»Siehst du das, Tungdil? Das ist dein Wirken.« Er warf es zurück auf den Stapel. »Nutzlos. Meine Arbeit von vielen Umläufen wurde innerhalb weniger Lidschläge zunichte gemacht.«
»Ich habe es nicht gewollt«, erwiderte der Zwerg ehrlich zerknirscht und doch nach wie vor starrköpfig. Der ausgeprägte Eigensinn war ein weiteres Erbe seiner Herkunft.
»Das weiß ich doch.« Das Gesicht des Magus nahm einen gütigen Ausdruck an. »Was ist denn wirklich geschehen?«
Tungdil senkte den Kopf. »Famulus Jolosin hatte mir wieder mal einen Streich gespielt. Ich wollte mich rächen und schüttete ihm einen Eimer Wasser über«, druckste er herum. »Er verwandelte es zu Eis, doch die Klumpen zerschlugen die Phiolen. Dann hat er mich eingesperrt, damit Ihr mich für den Schuldigen haltet.« Seine braunen Augen richteten sich auf seinen Ziehvater.
Der Magus seufzte. »Ich dachte mir schon, dass ihr beide euren Anteil tragt. Es tut mir Leid, dass ich laut wurde.« Er deutete auf das Pergament. »Für mich bedeutet es, dass ich die nächsten Umläufe wieder mit dem Zeichnen von Runen verbringen werde. Du wusstest doch, dass du nichts im Laboratorium zu suchen hast. Ihr Zwerge seid nicht dafür geschaffen, die flüchtigen Zauberkräfte zu beherrschen oder mit den Elixieren zu hantieren.«
»Es war ein …«
»Du hättest mir von Jolosins Streich berichten können, und ich hätte mir eine Strafe für ihn ausgedacht. Nun siehst du, wohin die ganze Angelegenheit geführt hat, und als Sühne wirst du auf Reisen gehen, und dieses Mal ist es keine kleine Reise, Tungdil. Aber ich werde mich sehr freuen, wenn du zu mir zurückkehrst. Glaube mir, Jolosin hat es mit dem Kartoffelschälen schlimmer erwischt.« Er grinste. »Er wird so lange schälen, bis du zurückkehrst, und wenn es dir unterwegs einfallen sollte, einen Umweg zu machen …« Lot-Ionan beließ es bei seiner spitzbübischen Andeutung. »Bist du bereit?!«
»Ja, ehrenwerter Magus«, antwortete der Zwerg erleichtert, dass sein Ziehvater nicht mehr auf seiner Alleinschuld bestand. »Was soll ich für Euch erledigen?«
Die Atmosphäre in dem mit Apparaturen, Büchern und Regalen zugestellten Raum war ganz im Gegensatz zu der Stimmung vorhin im Laboratorium entspannt und ruhig. Das Feuer knisterte leise im Kamin, und die zahme Eule des Zauberers hatte die großen Augen fest geschlossen.
»Langsam, junger Zwerg.« Lot-Ionan erhob sich, nahm seinen dampfenden Becher und ließ sich in den Ohrensessel vor der Feuerstelle sinken. Er reckte seine Filzschuhe gegen die Flammen und wärmte sie. »Wir lassen es gemütlich angehen. Jolosin soll ordentlich was zu tun haben … Ich möchte dir noch eine Sache mit auf den Weg geben, über die du nachdenken wirst, während du einen Fuß vor den anderen setzt.« Seine Hand zeigte auf den Stuhl neben sich.
Tungdil stellte den Rucksack auf den Boden und setzte sich. Es klang nach einer besonderen Sache.
»Ich habe nachgedacht.« Der Magus räusperte sich. »Du bist von deinen dreiundsechzig Zyklen seit zweiundsechzig in meiner Obhut.«
Der Zwerg wusste, was nun kam. In rührseligen Augenblicken, so wie diesem, wenn es dem Magus richtig gut ging, er ein wenig Grog getrunken hatte und der Kamin seine Füße wärmte, neigte er dazu, in die Vergangenheit zu reisen und sich an Ereignisse zu erinnern, die länger als ein Menschenleben zurücklagen. Tungdil mochte diese Unterredungen.
»Es war an einem stürmischen Abend im Winter, als ein Rudel Kobolde bei mir auftauchte und ein Bündel anschleppte.« Er schaute seinem Mündel in die Augen. »Das Bündel warst du«, lachte er leise. »Da hattest du noch keinen Bart, mein Lieber. Man hätte dich für ein Menschenkind halten können. Sie boten mir an, dich zu kaufen, oder sie würden dich in den nächsten Fluss werfen. Ich konnte nicht anders, als den Langnasen ihren Lohn zu geben und dich bei mir aufzunehmen.«
»Dafür bin ich Euch mein restliches Leben lang dankbar, Lot-Ionan«, warf Tungdil leise ein.
»Das restliche Leben«, wiederholte er leise. Der Magus schwieg eine Weile. »Ich habe mir überlegt, dass du
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