Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Bilder von Danny und Bilder, auf denen sie beide zusammen waren. Aber noch nie hatte er ein Bild mit seinem Vater gesehen. Danny wusste nicht mal, wie der Mann hieß.
Der Bus war Mr. Purvis’ Idee gewesen. Er brachte Danny auf dem Parkplatz am Depot das Fahren bei und ging mit und half ihm, den Antrag für den Busführerschein auszufüllen. Momma war anfangs nicht so sicher gewesen, denn sie brauchte Dannys Hilfe im Haus, wo er ja eine nützliche Lokomotive war, und die Sozialhilfe– so hieß das Geld von der Regierung– brauchte sie auch. Doch Danny wusste, dass der wahre Grund der war, dass er anders war. Bei einem Job, hatte Mommy mit ihrer besorgten Stimme erklärt, kam es darauf an, dass man » anpassungsfähig« war. Da passierten Dinge, ganz unterschiedliche Dinge. Zum Beispiel in der Cafeteria. An manchen Tagen servierten sie Hotdogs, an anderen Lasagne und dann wieder Hähnchenschnitzel. Auf der Speisekarte stand das eine, und dann stellte sich raus, es war was anderes. Man konnte nie wissen. Würde ihn das nicht aufregen?
Ein Bus war jedoch keine Cafeteria. Ein Bus war ein Bus, und der fuhr exakt nach Fahrplan. Wenn Danny sich ans Steuer setzte, war der Happy-Klick stärker als jemals sonst in seinem Leben. Einen Bus fahren! Einen großen gelben Bus, alle Sitze in geordneten Reihen hintereinander, der Schalthebel mit sechs Vorwärts- und einem Rückwärtsgang, alles hübsch ordentlich vor ihm. Es war kein Zug, aber es war nah daran, und wenn er morgens aus dem Depot fuhr, stellte er sich immer vor, er wäre eine von den Lokomotiven, Gordon oder Henry oder Percy oder sogar Thomas selbst.
Er war immer pünktlich. Zweiundvierzig Minuten vom Depot bis zur Endstation, 8,2Meilen, neunzehn Haltestellen, neunundzwanzig Fahrgäste, exakt. Robert-Shelly-Brittany-Maybeth-Joey-Darla/Denise(die Zwillinge)-Pedro-Damien-Jordan-Charlie-Oliver(O-Man)-Sasha-Billy-Molly-Lyle-Dick(Pisskopf)-Richard-Lisa-McKenna-Anna-Lily-Matthew-Charlie-Emily-JohnJohn-Kayla-Sean-Timothy. Manchmal wartete ein Elternteil mit ihnen an der Ecke, eine Mutter im Morgenmantel oder ein Vater im Anzug mit Schlips, einen Becher Kaffee in der Hand. Wie geht’s denn heute, Danny?, fragten sie dann mit einem Guten-Morgen-Lächeln im Gesicht. Weißt du, nach dir kann man wirklich die Uhr stellen.
Sei meine nützliche Lokomotive, sagte Momma immer, und das war Danny auch.
Aber jetzt waren die Kinder weg. Nicht nur die Kinder: Alle. Momma und Mr. Purvis und vielleicht alle Menschen auf der Welt. Die Nächte waren dunkel und still, und nirgends brannte Licht. Eine Zeitlang war es sehr laut gewesen. Leute hatten geschrien, Sirenen geheult, Militärlaster waren durch die Straße gedonnert. Er hatte Gewehre knallen gehört. Peng!, machten die Gewehre. Peng-peng-peng-peng! Worauf schießen die da?, hatte Danny wissen wollen, aber Momma hatte es nicht gesagt. Er sollte im Haus bleiben, sagte sie mit ihrer festen Stimme, nicht fernsehen und vom Fenster wegbleiben. Und was ist mit dem Bus?, fragte Danny, und Momma sagte bloß: Verdammt, Danny, mach dir jetzt keine Sorgen um den Bus. Heute ist keine Schule. Und morgen?, fragte Danny. Morgen auch nicht, sagte Momma.
Ohne den Bus wusste er nicht, was er mit sich anfangen sollte. Sein Gehirn kam nicht zur Ruhe. Seine Gedanken hüpften umher wie Popcorn in einer heißen Pfanne. Er wünschte, Mr. Purvis würde vorbeikommen und sich mit Momma vor den Fernseher setzen, denn ihr ging es dann immer besser mit allem, aber der Mann kam nicht. Die Welt war gespenstisch still. Da draußen waren Monster. Das hatte Danny rausgekriegt. Die Frau zum Beispiel auf der anderen Straßenseite, Mrs. Kim. Sie gab Geigenunterricht; Kinder kamen deshalb zu ihr ins Haus, und wenn im Sommer die Fenster offen waren, konnte Danny sie spielen hören, » Twinkle Twinkle« und » Mary Had a Little Lamb« und andere Lieder, deren Titel er nicht kannte. Aber jetzt spielte niemand mehr Geige, Mrs. Kim hing über dem Verandageländer, und niemand schaffte sie von da weg.
Und eines Abends hörte Danny dann Momma im Schlafzimmer weinen. Ab und zu weinte sie so, ganz allein; das war normal und natürlich und kein Grund für Danny, sich Sorgen zu machen, doch diesmal fühlte es sich anders an. Lange lag er in seinem Bett und lauschte und fragte sich, wie traurig man sein musste, um weinen zu können, aber sosehr er sich auch bemühte, diese Vorstellung war wie ein Gegenstand auf einem Regal, das er nicht erreichen konnte. Einige Zeit später
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