Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
damit die Farbe trocknen könnte, bevor sie die Tapetenbordüre klebte, die mit Szenen aus den » Peter Hase«-Büchern von Beatrix Potter verziert war. David hatte die Bordüre albern gefunden– » sentimental« war der Ausdruck, den er benutzt hatte–, aber das war Lila egal. Als Kind hatte sie die Geschichten von Peter, dem Hasen, geliebt. Sie war auf den Schoß ihres Vaters gekrochen oder hatte sich ins Bett gekuschelt, um zum hundertsten Mal zu hören, wie Peter aus Mr. McGregors Garten entkam. Der Garten zu Hause in Wellesley war von einer Hecke umgeben gewesen, und jahrelang– noch lange nachdem sie aufgehört hatte, an solche Dinge zu glauben– hatte sie dort geduldig nach einem Hasen in einer kleinen blauen Jacke gesucht.
Doch jetzt würde Peter Hase noch warten müssen. Die Erschöpfung übermannte sie. Sie musste sich hinlegen. Die Dämpfe kamen dazu. Sie machten sie schwindlig. Irgendetwas schien mit der Klimaanlage nicht zu stimmen, obwohl sie sich, seit sie schwanger war, immer ein bisschen überhitzt fühlte. Hoffentlich würde David bald nach Hause kommen. In der Klinik ging es zu wie im Irrenhaus. Er hatte sie einmal angerufen, um zu sagen, dass er später kommen würde, und seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
Sie ging hinunter in die Küche. Sie war in heilloser Unordnung. Berge von Geschirr stapelten sich in der Spüle, die Arbeitsplatte war schmutzig, der Boden unter ihren bloßen Füßen ganz klebrig. Lila blieb verwirrt in der Tür stehen. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie alles vernachlässigt hatte. Und was war aus Yolanda geworden? Wann war sie zuletzt hier gewesen? Die Haushaltshilfe kam regelmäßig dienstags und freitags. Welcher Tag war heute? Wenn man die Küche sah, dachte Lila, konnte man denken, Yolanda sei schon wochenlang nicht mehr im Haus gewesen. Okay, die Frau sprach nicht gerade perfekt Englisch, und manchmal machte sie komische Sachen, verwechselte zum Beispiel Tee- und Esslöffel– worüber David immer meckerte–, oder sie deponierte Rechnungen ungelesen in der Mülltonne. So etwas war ärgerlich. Aber es war nicht Yolandas Art, auch nur einen einzigen Tag zu fehlen. Einmal, im Winter, war sie morgens mit einem so schrecklichen Husten erschienen, dass Lila sie im oberen Stockwerk gehört hatte. Sie hatte der Frau den Mopp praktisch aus den Händen winden müssen: Por favor, Yolanda, ich will Ihnen helfen, ich bin Ärztin. (Natürlich war es eine Bronchitis gewesen. Lila hatte in der Küche ihre Brust abgehört und ihr selbst ein Rezept für Amoxicillin ausgestellt, denn sie wusste sehr wohl, dass Yolanda wahrscheinlich gar keinen Arzt hatte, von einer Versicherung ganz zu schweigen.) Also, okay, manchmal warf sie Post weg und brachte das Besteck durcheinander und legte Socken in die Schublade für Unterwäsche, doch sie arbeitete fleißig, ja unermüdlich, und auf ihre fröhliche, pünktliche Anwesenheit konnten sie sich verlassen, zumal angesichts ihrer eigenen verrückten Dienstzeiten. Und jetzt hatte sie nicht mal angerufen.
Das war übrigens noch so eine Sache. Das Telefon funktionierte anscheinend nicht, und Post war auch keine gekommen. Und keine Zeitung. Aber David hatte ihr eingeschärft, sie solle unter keinen Umständen aus dem Haus gehen, und deshalb hatte Lila nicht nachgesehen. Vielleicht lag die Zeitung in der Einfahrt.
Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und drehte den Wasserhahn auf. Ein Stöhnen von den Rohren unten, ein Rülpser und dann… nichts. Das Wasser auch! Dann fiel es ihr wieder ein: Das Wasser lief schon seit einer Weile nicht mehr. Jetzt musste sie zu allem Überfluss auch noch den Klempner rufen. Das heißt, sobald das Telefon wieder funktionierte. War es nicht typisch für David, dass er nicht da war, während hier alles den Bach hinunterging? Das war ein Lieblingsausdruck von Lilas Vater gewesen: Etwas ging den Bach hinunter. Eine merkwürdige Wendung, wenn Lila darüber nachdachte. Es gab viele solche Ausdrücke oder auch nur einfache Wörter, die einem plötzlich ganz fremdartig vorkamen, als hätte man sie noch nie benutzt. Windel. Irrtum. Klempner. Heirat. War es wirklich ihre Idee gewesen, David zu heiraten? Sie konnte sich nämlich nicht erinnern, dass sie gedacht hatte: Ich will David heiraten. Was man ja wohl denken sollte, bevor man losging und es tat. Eine komische Sache, das Leben: Gerade war es noch so, und im nächsten Augenblick war es ganz anders, und man konnte sich nicht erinnern, wie es eigentlich
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