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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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dazu gekommen war. Sie hätte nicht gerade behauptet, dass sie David liebte. Sie mochte ihn. Sie bewunderte ihn. (Und wer hätte David Centre nicht bewundert? Den Chef der Kardiologie im Denver General Hospital, den Gründer des Colorado Institute of Electrophysiology, einen Mann, der Marathon lief, in Vorständen saß, Dauerkarten für die Nuggets und für die Oper hatte und der seine Patienten jeden Tag den Klauen des Todes entriss?) Aber ergaben diese Gefühle zusammengenommen Liebe? Und wenn nicht, sollte man einen solchen Mann dann heiraten, weil man ein Kind von ihm bekam– nicht geplant, es war einfach passiert– und weil er in einem Augenblick von David-typischer Noblesse verkündet hatte, er gedenke » das Richtige« zu tun? Was war denn eigentlich richtig? Und warum erschien ihr David manchmal nicht wie er selbst, sondern wie jemand, der David ähnelte, der auf David basierte – wie ein menschengroßes David-ähnliches Etwas? Als Lila ihrem Vater die Neuigkeit von ihrer Verlobung eröffnet hatte, hatte sie es ihm im Gesicht angesehen: Er wusste es. Er hatte an seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer gesessen, umgeben von den Büchern, die er liebte, und Klebstoff an den Bugspriet eines Schiffsmodells gestrichen. In dem kaum merklichen Heben seiner dichten Brauen verriet sich die Wahrheit. » Tja«, sagte er und räusperte sich. Dann schwieg er, während er das Klebstofffläschchen zuschraubte. » Ich kann mir schon vorstellen, dass du es in Anbetracht der Umstände vielleicht möchtest. Er ist ein guter Mann. Ihr könnt hier heiraten, wenn ihr wollt.«
    Er war in der Tat ein guter Mann, und sie wollten bei ihr zu Hause heiraten, und so waren sie dicht vor der Front eines Frühjahrsschneesturms nach Boston geflogen. Alles war hastig zusammengeschustert worden, und nur eine Handvoll Verwandte und Freunde hatte es in letzter Minute geschafft, verlegen im Wohnzimmer zusammenzustehen, als das Gelübde abgelegt wurde (was alles in allem vielleicht zwei Minuten gedauert hatte), und dann hatten sie sich auch gleich wieder entschuldigt. Sogar der Caterer hatte sich frühzeitig verdrückt. Es war nicht Lilas Schwangerschaft, was für diese verlegene Stimmung sorgte. Sie wusste, es war der Umstand, dass jemand fehlte.
    Jemand würde immer fehlen.
    Aber egal. David war egal und ebenso ihre grausige Hochzeit (die sich eigentlich eher wie eine Totenfeier angefühlt hatte) mit den Bergen von übrig gebliebenem Lachs und dem Schneesturm und allem andern. Wichtig war das Baby und dass sie auf sich achtete. Die Welt konnte den Bach hinuntergehen, wenn sie wollte. Wichtig war das Baby. Es würde ein Mädchen werden. Lila hatte es auf dem Ultraschallbild gesehen. Ein kleines Mädchen. Mit winzigen Händen, winzigen Füßen, einem winziges Herzen, einer winzigen Lunge schwebte es in der warmen Suppe ihres Körpers. Das Baby hatte öfters einen Schluckauf. Hicks!, machte es. Hicks! Hicks! Schluckauf war ein merkwürdiges Wort. Das Baby atmete das Fruchtwasser ein und auf diese Weise wieder aus. Das Zwerchfell kontrahierte, wodurch die Epiglottis sich schloss: ein rhythmisches Zwerchfellflattern, lateinisch Singultus, » das einmalige, ruckartige Einatmen beim Schluchzen«. Als Lila das im Medizinstudium erfahren hatte, hatte sie gedacht: Wow. Einfach nur: Wow. Und natürlich hatte sie sofort einen Schluckauf gekriegt, genau wie die Hälfte der übrigen Studenten. Lila wusste von einem Mann in Australien, der seit siebzehn Jahren einen ununterbrochenen Schluckauf hatte. Sie hatte ihn im Fernsehen gesehen, bei der Today Show.
    Today. Heute. Welcher Tag war heute? Sie war in den Eingangsflur gegangen, und ohne sich recht bewusst zu machen, was sie da tat, hatte sie den Vorhang zur Seite gezogen, um einen Blick hinauszuwerfen. Nein– keine Zeitung. Keine Denver Post und keine New York Times und auch nicht das schundige Nachbarschaftsblättchen, das immer geradewegs in die Tonne wanderte. Durch die Scheibe hörte sie das hohe Summen der Sommerinsekten in den Bäumen. Normalerweise fuhren hier vereinzelte Autos vorbei, der Postbote pfiff auf dem Weg zum nächsten Briefkasten, ein Kindermädchen schob einen Wagen vor sich her, aber nicht heute. Ich komme zurück, sobald ich mehr weiß. Bleib im Haus, schließ die Tür ab. Geh unter keinen Umständen nach draußen. Lila erinnerte sich, wie David das alles zu ihr gesagt hatte; sie erinnerte sich, wie sie am Fenster gestanden und zugesehen hatte, wie sein Auto– einer von diesen

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