Diebe
hierhergelockt. Ich knall dich ab, ich schwör’s«, aber er schießt nicht. »Ich schwör’s, außer wenn du was holst ...« Er beginnt vornüberzukippen, versucht sich nach hinten zu lehnen, schafft es jedoch nicht. Die Pistole fällt ihm aus der Hand, hektisch greift er danach, bekommt dadurch noch mehr Schlagseite. Die Pistole sinkt unter die Oberfläche. »Jesus, Maria ...« Keine drohenden Worte mehr jetzt.
Wenn er stillhält, dann kann er, vermutet sie, sein Gesicht vielleicht noch fünf Minuten aus dem Schlamm heraushalten. Sie tritt aus der Deckung der Boje heraus. »Du hast Freunde«, sagt sie. »Vielleicht helfen die dir.«
»Du könntest ’n Seil holn, irgendwas ...«
»Du musst stillhalten, sonst verschluckt dich der Schlamm.«
»Was bist du für eine?« Seine Atmung ist abgehackt, panisch, aber er hat das Zappeln eingestellt, das Kinn ist nach oben gereckt, der Nacken steif. »Du hast kein Mitgefühl ... Herrgott!«
Sie denkt darüber nach. Mitgefühl? Haben diese Leute Mitgefühl für Raoul oder irgendein anderes Kind gezeigt, das sie auf dem Berg eingesperrt haben? Sie kann jetzt gehen, die Männer stecken alle fest: in ungerader Linie, bis zu den Bäuchen, stumm, jeder völlig der eigenen Anstrengung hingegeben, sich aus dem Schlamm zu befreien. Wie die Klammern auf Mama Balis Wäscheleine hängen sie da, bald in die eine, bald in die andere Richtung geneigt. Drei sind es noch, der, den sie Daro nannten, ist fast verschwunden.
»Für euch hab ich kein Mitgefühl«, sagt sie.
Sie hat sieben Leute gesehen, als sie in der Bude aus dem Fenster blickte, daher können die übrigen jeden Moment nachkommen, um zu sehen, was los ist. Drei Personen also, eine von ihnen Eduardo. Vielleicht kommen sie angelaufen, um diese vier zu retten. Vielleicht auch nicht. Baz hat nicht die Absicht, es abzuwarten. Sie wirft einen letzten Blick zum Boot hinaus. Keiner hat jemals den Weg dorthin gefunden, nicht einmal Demi. Und in ihrem Traum ist das Wasser gekommen und das Boot ist darauf geschwommen ... Für einen kurzen Moment ist sie versucht, hinauszugehen und sich dort zu verstecken, dort, wo ihr nichts und niemand etwas anhaben kann, aber das sind törichte Gedanken, kindische Gedanken, reine Träumerei.
Träumereien bringen nichts, bringen einen vor allem nicht in Sicherheit. »Halt still«, sagt sie zu Rico. »Der Schlamm verschluckt dich in null Komma nix, wenn du zappelst.«
Er hält den Kopf zum Ufer zurückgebogen, vielleicht um nicht sehen zu müssen, wie nahe sein Gesicht dem Schlamm ist. Er antwortet nicht. Diese Männer sind nicht daran gewöhnt, sich von Kindern etwas sagen zu lassen, sich von irgendjemandem außer ihrem Boss etwas sagen zu lassen. Sie jagen. Sie handeln. Sie schüchtern Leute ein. In Zukunft vielleicht nicht mehr.
Sie läuft mit leichten Schritten davon, lässt die Männer zurück, ohne auf die Beschimpfungen der beiden hinter Rico zu achten. Jetzt ist nur noch eins zu tun: abhauen, in die Nacht verschwinden, das Barrio verlassen, die Stadt verlassen, weit, weit weg gehen, dahin, wo sie keiner kennt.
Sie sieht den Strahl der Taschenlampe, gerade als sie das umgestürzte Boot erreicht – sie kommen.
Als sie den Rumpf anhebt, liegt Demi zusammengerollt da, ganz wie ein braver Hund. Er dreht den Kopf und greift dann nach der Hand, die sie ihm hinhält. »Ziehst mich immerzu hoch, Baz.«
»Hast ja kaum Gewicht.«
Er legt seinen Arm um ihre Schulter, sie einen Arm um seine Taille, und so, halb gehend, halb humpelnd, lassen sie den Fluss rasch hinter sich, schlagen den Weg ein, den Baz kurz zuvor schon einmal benutzt hat und der sie in die Nähe des Marktes führen wird.
Nach zwanzig Minuten machen sie Rast. Der Fluss liegt weit hinter ihnen und das Barrio ist für seine Verhältnisse sehr still. Nach Baz’ Schätzung ist Mitternacht längst vorüber und sie ist hundemüde. Sie macht sich Gedanken um Lucien. Fragt sich, ob sie wirklich am Norte-Bahnhof auf ihn warten können. Dürfen sie das wagen? Wird Eduardo sich wirklich so viele Umstände machen, um sie zur Strecke zu bringen? Warum sollte er?
Schließlich erreichen sie den Markt und bauen sich ein Nest unter einem der Verkaufsstände, aus Plastikstreifen, Papier und Pappe. Baz stöbert ein paar zerdrückte braune Bananen auf und sinkt dann neben Demi nieder. Das Fruchtfleisch ist so weich, dass es fast zerfließt, und hilft wenig, den Hunger zu stillen, doch sie sind an Hunger gewöhnt. Sie werden morgen essen. »’n
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