Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
Außer den Piraten und uns lebte niemand auf Dreckswetter. Die Gründe lagen auf der Hand. Zum einen war das Wetter scheußlich. Elf Monate im Jahr war es brütend heiß und feucht, es wehte kein Lüftchen, so dass sich an einem schlechten Tag die Luft wie eine heiße durchweichte Decke anfühlte, die einen von allen Seiten erdrückte.
Der Ausnahmemonat war September, und das bedeutete Wirbelstürme.
Dann war da noch der Vulkan. Er war zwar schon seit Ewigkeiten nicht mehr ausgebrochen, trotzdem qualmte er vor sich hin und ließ die Erde oft genug beben, um diejenigen abzuschrecken, denen die Piraten und das Wetter nichts ausmachten. Mir jagte er nur deshalb keine Angst ein – eine Menge andere Dinge allerdings schon –, weil ich auf halber Höhe des Vulkankegels geboren und aufgewachsen war und nichts anderes kannte.
Mit den Piraten war es dasselbe. Es gab auf Dreckswetter zwei Sorten von ihnen: die Normalen, die in Galgenhafen rumhingen, becherten und sich Messerstechereien lieferten, wenn sie nicht gerade cartagische Goldschiffe plünderten; und die Wracks, die Kaputten, die zwar zu viele Gliedmaßen oder Augen oder Organe eingebüßt hatten, um auf einem Schiff anzuheuern, aber immer noch nicht genug, als dass sie endgültig draufgegangen wären. Einige von ihnen schlugen sich in den Spelunken von Galgenhafen mit Waffengeschäften so durch; die meisten humpelten allerdings tagtäglich den Berg hoch, um für Dad auf der Stinkfruchtplantage zu arbeiten.
Keine Ahnung, was er ihnen zahlte – aber wir besaßen kaum etwas, es kann also nicht viel gewesen sein. Da jedoch keiner je eine Meuterei anzettelte oder versuchte uns allesamt im Schlaf abzumurksen, scheint es genug gewesen zu sein.
Bis auf Quint, den Hauspiraten, der für uns kochte und gelegentlich Näharbeiten erledigte, schliefen sie unten in der Baracke und blieben auch bei der Arbeit unter sich. Dad hatte alle Hände voll mit der Plantage zu tun und überließ deshalb den restlichen Haushalt uns Kindern – die Kinder waren ich, meine Schwester Venus und mein Bruder Adonis. Ich war der Jüngste, worauf ich hätte verzichten können. Adonis verdrosch mich bei jeder Gelegenheit, und auch wenn ich mich aus Leibeskräften wehrte, hatte er mir drei Jahre voraus und ich zog meistens den Kürzeren – vor allem, nachdem er mit fünfzehn über eins achtzig wurde und Schultern bekam, die fast so breit und kräftig waren wie die von Dad.
Zum Glück wurde Adonis mit zunehmender Größe auch schwerfälliger, und irgendwann kam ich auf den Dreh, dass ich den Prügeln entgehen konnte, wenn ich in den Obstfeldern auf einen Stinkfruchtbaum kletterte, und zwar bis zu der Höhe, wo die Äste zu dünn wurden, um Adonis’ Gewicht zu tragen. Da er wusste, dass Dad Hackfleisch aus ihm machen würde, wenn er einen dieser Bäume beschädigte, warf er mir unter seinen dicken schwarzen Augenbrauen bloß finstere Blicke zu, schüttelte die Faust und brüllte, er könne ewig auf mich warten. Irgendwann wurde ihm das meist zu langweilig und er trollte sich.
Bis ich endlich groß genug war, um es mit ihr aufzunehmen, drangsalierte mich Venus ebenfalls dauernd. Danach ließ sie es für alle Zeiten bleiben, dafür erklärte sie mir ständig, wie dämlich ich sei und dass Dad versucht habe, mich zu verkaufen, aber egal zu welchem Preis keinen Käufer habe finden können, wohingegen sie eines Tages einen rovischen Prinzen heiraten werde und dass dieser mich fein säuberlich zerkleinern und seinen Pferden zum Fraß vorwerfen werde.
»Sie werden dich mit Haut und Haaren verschlingen, Egbert«, sagte sie und grinste mich über ihre lange spitze Nase hinweg höhnisch an.
Irgendwann fand ich heraus, dass Pferde kein Fleisch fressen, machte mir aber nicht die Mühe, Venus aufzuklären. Ebenso wenig wie ich mir die Mühe machte, ihr zu sagen, dass ein Prinz aus Rovien niemals eine Nichtadelige heiraten würde, geschweige denn nach einer Frau suchen würde, für die er den Kontinent verlassen und Tausende von Kilometern über den Großen Schlund zu einer kleinen, schwülen Insel segeln müsste, auf der es von Piraten nur so wimmelte und die so unbedeutend war, dass sie nicht mal auf den Karten der Neuen Länder in der Geografie der Welt auftauchte.
Da Venus bei allem, was ihr nicht passte, die Ohren auf Durchzug stellte und, wenn das nicht funktionierte, loskreischte, war es vollkommen sinnlos, ihr so etwas zu erzählen. Und sobald sie kreischte, kam Adonis angeflitzt und haute
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