Diebe
der Intensivstation, seit ihn ein Motorrad über den Haufen gefahren hat, drei mussten aus einer stinkenden Schlammwüste befreit werden, einer ist tot, vom Fluss verschluckt. Vielleicht denkt der neue Señor ganz kühl über ein angemessenes Schicksal für Baz und Demi nach. Ein neuer Señor kann es sich nicht leisten, sein Gesicht zu verlieren, und dieser Señor hat so lange gewartet, hat alles so sorgfältig geplant, dass es sicherlich nicht infrage kommt, irgendwelche aufsässigen Ratten aus dem Barrio entkommen zu lassen.
Der neue Señor wird überall in der Stadt Augen haben.
In der Straßenbahn Richtung Norte klingelt die Glocke und der Fahrer ruft die nächste Haltestelle aus. Baz und Demi bleiben sitzen. Das Abteil füllt sich. Die Leute sind in ihre Beschäftigungen versunken, hören Musik über Kopfhörer, halten sich an ihren Taschen fest, lesen die Tageszeitung. Ein Mann beschwert sich, dass die Bahn zu voll ist, er hätte für seine Fahrkarte bezahlt und ob nicht mal irgendwelche Kinder aufstehen könnten. Demi ignoriert ihn. Baz fällt eine Zeitungsschlagzeile ins Auge: »VERMISST!« Diese Schlagzeilen machen ständig ein Mordsgeschrei. Sie vermisst Raoul. Sie vermisst die Zeit, als sie und Demi und Fay noch zu dritt waren und fast eine Familie zu sein schienen. Sie hofft inständig, dass sie Lucien sehen werden, wenn sie zum Bahnhof kommen. Sie sagt Demi aber nichts davon. Die nächste Haltestelle. Das Zentrum. Sie drängen sich durch den Gang und steigen aus, überqueren dann die Straße, um auf die Straßenbahn zu warten, die sie zum Norte-Bahnhof bringt.
Dies ist der schickere Teil der Stadt, und Baz ist sich bewusst, dass sie schmuddelig aussehen. Sie fasst Demi an der Hand und hält sie auch fest, als er sie instinktiv wegzuziehen versucht. »Was is’n mit dir los?«, zischt er. »Bist ’n Kleinkind oder was?«
»Diebe halten sich nicht an der Hand«, sagt sie. »Versuch so auszusehen, als würdest du dich um mich kümmern. Niemand hat was gegen Kinder, wenn sie einen niedlichen Eindruck machen.«
Er grunzt. »Du bist echt ’ne Marke, Baz. Manchmal denk ich, dass du gar nicht so blöd bist.«
Sie besteigen die neue Straßenbahn, lassen es sich höflich gefallen, dass der Fahrer sie anweist, zu warten, bis alle anderen Fahrgäste ihre Tickets gekauft haben, und legen ihm dann, nachdem er noch erklärt hat, dass es keine Gratisfahrten mit dieser Straßenbahn gebe, kommentarlos das genau abgezählte Geld für ihre Fahrt hin. Ruppig gibt er die Fahrscheine heraus. »Falls irgendjemand in dieser Straßenbahn sein Portmonee verliert, schleif ich euch eigenhändig ins Schloss«, sagt er extra laut, damit alle Umstehenden es hören können. Baz tut so, als würde sie gleich anfangen zu weinen, und eine Frau faucht den Fahrer an, er solle die armen Kinder in Ruhe lassen. Das Leben ist schon schwer genug, sagt sie, auch ohne dass Leute wie er es einem zur Hölle machen.
Sie lächelt Baz zu, und Baz wischt sich mit der Hand über die Augen und lächelt schüchtern zurück, bevor sie und Demi durch das Abteil gehen, um sich auf die Plattform am hinteren Ende zu stellen. »Vielleicht kriegste mal ’n Job als Schauspielerin, kannst in der Soap mitspieln, die Fay so gern guckt.«
»Du bist der Schauspieler«, sagt sie. »Markierst immer den Großkopf.«
Demi grinst. »Ein großer Kopf für große Ideen.«
Zehn Minuten später springen sie ab, erklimmen die große Treppe vor dem Bahnhofsgebäude und gehen direkt zu den Fahrkartenschaltern. Dort, in der Mitte des riesigen Saals, inmitten der wuselnden Menschenmenge, steht Lucien, eine klapperdürre Gestalt in einer abgetragenen Jacke.
»Demi, guck, wer da ist!« Sie ist schon im Begriff, sich ohne weitere Umstände zu ihm durchzudrängen, so glücklich ist sie, da bemerkt sie einen Ausdruck in seinem Gesicht, den sie noch nie gesehen hat. Er sollte lächeln, erleichtert sein, sie zu sehen, doch nichts davon. Er starrt glatt durch Baz hindurch, als würde sie gar nicht existieren. »Irgendwas stimmt nicht«, sagt sie.
Sofort lässt Demi sich auf ein Knie fallen, tut so, als müsse er sich den Schuh zubinden. Auch Baz geht in die Hocke. Für einen Moment sind sie von einem Meer von Beinen umgeben. »Ich seh keine Uniformen, seh keine APA. Uns sucht hier keiner, Baz. Wir ham nichts gemacht.«
Das ist wahr. Sie haben in keine Tasche gegriffen, kein dickes Portmonee gemopst, aber das heißt nicht, dass sie sicher sind, wie sie sehr wohl weiß. Demi
Weitere Kostenlose Bücher