Diebe
mitteilen wollen, dass sie sicher angekommen sind. Wer ist schon sicher in der Stadt?
Die große Uhr sagt ihr, dass sie noch drei Minuten hat, aber ohne Fahrkarte und ohne Demi kann sie nirgendwohin. Sie bleibt stehen. Sie dreht sich um. Und sie sieht ein Handgemenge neben einem Zeitungsstand, ganz in der Nähe des Bahnsteigs, wo sie eben noch gestanden hat: Zwei Jungen prügeln sich, ein Mann winkt mit beiden Händen, ein Polizist geht auf sie zu, wird schneller, fängt an zu laufen, ein schriller Pfiff ertönt. Sie weiß, dass es Demi ist, und der andere ist Miguel, sie balgen sich wie die Hunde, und der Uniformierte schreitet ein, seine Pfeife kreischt, sein Schlagstock saust nieder.
Ohne zu überlegen, rennt sie auf das Geschehen zu, kann gerade noch einem alten Ehepaar ausweichen, das ihr genau vor die Füße läuft, ebenso wie sie angelockt von dem plötzlichen Aufruhr. Vorübergehend abgelenkt, sieht sie den kleinen Jungen nicht, der, Blicke nach links und rechts werfend, auf sie zusaust, und so prallen sie mit den Schultern zusammen, verlieren das Gleichgewicht und stürzen beide zu Boden. Baz ist augenblicklich wieder auf den Füßen, hält sich die schmerzende Schulter, aber sonst ist nichts passiert.
Der Junge, der sich beim Sturz das Kinn ein bisschen aufgeschlagen hat, blinzelt und japst beinahe ihren Namen: »Baz!«
Es ist Sol, das Baby der Bande. Ängstlich, mit Rotz im Gesicht, will er sich hochrappeln. Sie packt ihn, bevor er ihr entwischen kann. »Was tust du hier?«, zischt sie ihn an. Wäre sie eine Schlange, würde sie ihn beißen, solch eine kalte Wut empfindet sie, auf ihn und auf alle anderen.
»Fay hat mich hergeschickt. Soll gucken, ob du und Demi sicher seid.«
Sie glaubt ihm nicht. »Du bist mit Miguel gekommen!«
»Nein. Ich schwör’s, Baz. Miguel ist nicht mehr bei Fay. Lass mich los, wir müssen weglaufen, Baz.« Plötzlich windet er sich los und ist auf und davon. Halb setzt sie dazu an, ihm nachzulaufen, bleibt dann aber stehen. Drüben, wo die Schlägerei stattgefunden hat, hievt der Polizist Demi mit einer Hand vom Boden hoch, er hat den Kragen von Demis T-Shirt in die Faust geklemmt und diese einmal umgedreht, und Demis Kopf hängt vornüber, als würde er toter Mann spielen oder so was. Der Polizist hat die rechte Hand mit dem Schlagstock hoch erhoben und jetzt saust sie nieder. Warum? Demi sieht jetzt schon aus, als ob kaum noch Leben in ihm steckt! Aber dann erkennt sie, dass es gar nicht Demi ist, auf den er einschlägt, sondern Miguel, der den Arm erhoben hat, um seinen Kopf zu schützen, und aufheult, als ihn der Schlagstock trifft. Gleich darauf hat der Polizist den Stock losgelassen, sodass er am Handgelenk baumelt und er die rechte Hand frei hat, um den Jungen fest am Nacken zu packen.
Also hat es sie beide erwischt. Zwei Jungen für den weißen Transporter. Zwei Jungen fürs Schloss.
Das war’s jetzt. Nichts mehr zu wollen. Baz guckt nur noch reglos zu, die Füße wie Blei, die Schulter wund, das Gesicht taub. Zwei Mal. Demis Glück ist aufgebraucht. Keiner kommt zwei Mal davon. Jetzt kann ihn keiner wieder aus dem Schloss herausholen.
31
»Glück!«, hat Fay immer gesagt. »Was soll das schon heißen, Mädchen? Niemand hat einfach Glück. Du hältst die Augen offen, verstehst du, nutzt die Gelegenheit, wenn sie kommt. So läuft das Leben. Keiner wird reich und bleibt aus’m Schloss raus, wenn er sich aufs Glück verlässt. Weißte, was ich meine?«
Der Polizist ist nicht mehr als fünf Meter von Baz entfernt, die beiden Jungen baumeln in seinen Fäusten, als würde er sie zum Trocknen aufhängen, und sie weiß, dass jetzt keine Zeit zum Überlegen und Abwägen mehr ist. Garantiert kommen gleich noch weitere Uniformierte, vielleicht steht schon jetzt irgendein APA-Mann in der Nähe, bereit, auch sie am Kragen zu packen. Aber das ist jetzt alles egal.
Sie holt einmal tief Luft, dann stürmt sie vorwärts, wirft sich dem Polizisten mit voller Kraft von hinten in die Beine, genau auf Höhe der Knie, sodass er umknickt wie ein großer Baum und im Sturz mit dem Rücken noch halb auf Baz’ Kopf landet.
Es gibt ein Geschrei, jemand zieht sie in die eine Richtung, jemand anders, der sie am Bein gepackt hat, in die andere. Sie tritt mit dem linken Fuß um sich, jemand flucht, und dann ist sie frei, und irgendwie ist jetzt auch Demi auf den Beinen, mit schmerzverzerrtem Gesicht und Blut, das ihm den Arm hinunterläuft, aber er hält ihre Hand und sie laufen auf
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