Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
hören werde. Auf dich – wenn es Dienstag ist. Weil wir Dienstagsleute sind.«
Ich lächelte. Dienstagsleute.
»Mitch, mehr Selbstmitleid als das gestatte ich mir nicht. Ein bißchen jeden Morgen, ein paar Tränen, das ist alles.«
Ich dachte an all die Menschen, die viele Stunden damit verbrachten, sich selbst zu bemitleiden. Wie nützlich es doch wäre, das Selbstmitleid jeden Tag auf ein bestimmtes Maß zu beschränken. Nur ein paar tränenreiche Minuten, und dann einfach weitermachen mit dem Tag. Und wenn Morrie es tun konnte, mit solch einer schrecklichen Krankheit …
»Es ist schrecklich, wenn du es so siehst«, sagte Morrie. »Es ist schrecklich zu beobachten, wie mein Köper langsam zu einem Nichts zusammenschrumpft. Aber es ist auch wunderbar, wegen der vielen Zeit, die mir gewährt wird, um mich zu verabschieden.«
Er lächelte. »Nicht jeder hat so viel Glück.«
Ich betrachtete ihn in seinem Sessel, unfähig aufzustehen, sich zu waschen, sich die Hose anzuziehen. Glück? Sagte er wirklich Glück?
In einer Pause, als Morrie zur Toilette mußte, blätterte ich die Bostoner Zeitung durch, die neben seinem Stuhl lag. Es stand ein Bericht über eine kleine Holzfällerstadt darin, wo zwei Mädchen im Teenageralter einen dreiundsiebzigjährigen Mann, der sich mit ihnen angefreundet hatte, folterten und töteten. Dann gaben sie in dem Wohnwagen, in dem er gelebt hatte, eine Party und zeigten ihren Gästen die Leiche. Und da war noch eine Story über einen heterosexuellen Mann, der einen homosexuellen Mann tötete, nachdem dieser in einer Fernseh-Talkshow aufgetreten war und gesagt hatte, er habe sich in ihn verliebt.
Ich legte die Zeitung weg. Morrie wurde wieder hereingerollt – lächelnd, so wie immer –, und Connie schickte sich an, ihn aus dem Rollstuhl in den Sessel zu heben.
»Möchtest du, daß ich das tue?« fragte ich.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, und ich bin noch nicht einmal sicher, warum ich es ihm anbot, aber Morrie
schaute Connie an und sagte: »Kannst du ihm zeigen, wie man das macht?«
»Sicher«, sagte Connie.
Ihren Anweisungen folgend beugte ich mich vor, schob meine Unterarme unter Morries Achseln und zog ihn zu mir heran, als würde ich ein großes Holzstück von unten anheben. Dann richtete ich mich auf und hievte ihn hoch, während ich aufstand. Wenn du jemanden hochhebst, erwartest du normalerweise, daß seine Arme dich umfangen, aber Morrie schaffte das nicht. Er war weitgehend totes Gewicht, und ich spürte, wie sein Kopf sanft an meiner Schulter abprallte und mir sein Körper wie ein großer, feuchter Laib Brot entgegensank.
»Ahhh«, stöhnte er leise.
»Ich hab’ dich, ich hab’ dich«, sagte ich.
Ihn auf diese Weise zu halten berührte mich auf eine Art und Weise, die ich nicht beschreiben kann. Ich kann nur sagen, daß ich den Keim des Todes in seiner schrumpfenden Hülle fühlte. Als ich ihn in den Sessel legte und seinen Kopf auf die Kissen bettete, wurde mir plötzlich bewußt, daß unsere Zeit zu Ende ging.
Und ich mußte etwas tun.
Es ist mein erstes Jahr auf dem College, 1978, als die »Disco«- und »Rocky«-Filme der letzte Schrei sind. Ich besuche einen ungewöhnlichen Soziologiekurs bei Morrie: Das Thema ist »Gruppenprozeß«. Jede Woche studieren wir die unterschiedlichen Interaktionsweisen der Studenten in der Gruppe: wie sie auf Wut, Eifersucht, Aufmerksamkeit reagieren. Wir sind menschliche Versuchsratten. Häufig bricht am Ende irgend jemand in Tränen aus. Ich nenne ihn den »Sensibelchen«-Kurs. Morrie meint, ich solle mich mehr öffnen.
An diesem Tag sagt Morrie, er habe eine Übung für uns, die wir ausprobieren sollten. Wir sollen uns hinstellen, mit dem Rücken zu unseren Klassenkameraden, und uns zurückfallen lassen, wobei wir uns darauf verlassen, daß irgendein anderer Student uns auffängt. Die meisten von uns fühlen sich mit dieser Übung unwohl, und wir können uns nur ein paar Zentimeter zurückfallen lassen, bevor wir innehalten. Wir lachen verlegen.
Schließlich verschränkt eine Studentin, ein dünnes, stilles, dunkelhaariges Mädchen, das fast immer weiße, weite Seemannspullover trägt, die Arme vor der Brust, schließt die Augen, lehnt sich zurück
und läßt sich zurücksinken, so wie in einem jener Lipton-Tee-Werbespots, wo das Model platschend in den Pool fällt.
Einen Augenblick lang bin ich sicher, daß sie mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landen wird. Im letzten Moment greift
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