Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
der Partner, der ihr zugeteilt wurde, nach ihrem Kopf und ihren Schultern und reißt sie kraftvoll hoch.
»Whoa!« rufen mehrere Studenten. Einige klatschen.
Endlich lächelt Morrie.
»Siehst du«, sagt er zu dem Mädchen. »Du hast die Augen geschlossen. Das macht den Unterschied aus. Manchmal kannst du nicht glauben, was du siehst, du mußt glauben, was du fühlst. Und wenn andere Menschen dir jemals vertrauen sollen, dann mußt du spüren, daß du ihnen ebenfalls vertrauen kannst – selbst wenn du dich im tiefsten Dunkel befindest. Selbst wenn du fällst.«
Der dritte Dienstag
Wir reden über Reue
Am nächsten Dienstag kam ich mit den üblichen Tragetaschen mit Lebensmitteln an – Teigwaren mit Mais, Kartoffelsalat, Apfel-Fruchtpastete – und mit noch etwas: einem Tonbandgerät.
»Ich möchte mich an das, worüber wir reden, erinnern können«, sagte ich zu Morrie. »Ich möchte deine Stimme haben, damit ich ihr lauschen kann … später.«
»Wenn ich tot bin.«
»Sag das nicht.«
Er lachte. »Mitch, ich werde sterben. Und früher, nicht später.«
Er betrachtete das Gerät. »Ganz schön groß«, sagte er. Ich fühlte mich wie ein Eindringling, so wie Reporter es häufig tun, und mir kam der Gedanke, daß ein Tonbandgerät zwischen zwei Leuten, die vermutlich Freunde sind, ein fremdes Objekt, ein künstliches Ohr sei. In Anbetracht der vielen Leute, die Ansprüche auf Morries Zeit erhoben, sollte ich mich an diesen Dienstagen vielleicht mehr zurücknehmen.
»Hör mal«, sagte ich und nahm das Gerät hoch. »Wir brauchen das hier nicht zu benutzen. Wenn du dich damit unwohl fühlst …«
Er unterbrach mich, drohte mir mit dem Finger, hob dann seine Brille von der Nase und ließ sie an dem Band um seinen Hals herunterbaumeln. Er sah mir in die Augen. »Stell es wieder hin«, sagte er.
Ich stellte es wieder hin.
»Mitch«, fuhr er mit leiser Stimme fort, »du verstehst das nicht. Ich möchte dir von meinem Leben erzählen. Ich möchte dir davon erzählen, bevor ich dir nichts mehr erzählen kann.«
Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Ich möchte, daß jemand meine Geschichte anhört. Wirst du das tun?«
Ich nickte.
Wir saßen einen Moment schweigend da. »Also«, sagte er, »ist es angeschaltet?«
Tja, die Wahrheit ist, jenes Tonbandgerät war mehr als bloße Nostalgie. Ich war dabei, Morrie zu verlieren, wir alle waren dabei, Morrie zu verlieren – seine Familie, seine Freunde, seine ehemaligen Studenten, seine Kollegen, seine Kumpel aus den politischen Diskussionsgruppen, die er so sehr liebte, seine früheren Tanzpartnerinnen – alle. Und ich vermute, Tonbänder sind, so wie Fotos und Videofilme, ein verzweifelter Versuch, dem Tod ein paar Erinnerungsstücke aus seinem Koffer zu stehlen.
Aber es wurde mir auch immer deutlicher – durch seinen
Mut, seinen Humor, seine Geduld und seine Offenheit –, daß Morrie das Leben von einem ganz anderen Standpunkt aus betrachtete als irgendein anderer Mensch, den ich kannte. Einem gesünderen Standpunkt.
Einem vernünftigeren Standpunkt. Und er würde demnächst sterben.
Wenn einem in dem Moment, in dem man dem Tod ins Auge schaut, eine mystische Klarheit der Gedanken geschenkt wird, dann war Morrie bereit, diese Klarheit mit mir zu teilen. Und ich wollte mich so lange wie möglich an seine Worte und Einsichten erinnern.
Das erste Mal, als ich Morrie in »Nightline« sah, wollte ich wissen, was er bereute, als er wußte, daß sein Tod nahe bevorstand. War er unglücklich über verlorene Freunde? Hätte er vieles anders gemacht? Ich fragte mich selbst: Würden mich traurige Gedanken quälen, wegen all der Dinge, die ich versäumt hatte? Würde ich Reue empfinden wegen der Geheimnisse, die ich vor anderen verborgen hatte?
Als ich diese Gedanken Morrie gegenüber zur Sprache brachte, nickte er. »Das sind doch Dinge, über die alle Menschen sich Sorgen machen, oder? Was, wenn heute der letzte Tag meines Lebens wäre?« Er betrachtete aufmerksam mein Gesicht, und vielleicht entdeckte er eine Ambivalenz, was meine eigenen Entscheidungen betraf. Ich hatte diese Vorstellung, daß ich am Ende über meinem Schreibtisch zusammenbrechen würde, die Geschichte zur Hälfte geschrieben,
und daß meine Redakteure mir die Blätter entrissen, während die Sanitäter meinen Körper davontrugen.
»Mitch?« sagte Morrie.
Ich schüttelte den Kopf und sagte nichts. Aber Morrie spürte mein Zögern.
»Mitch«, sagte er, »in unserer Kultur
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