Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Studenten schauen aus dem Fenster, versuchen, über dem Ganzen zu stehen. Dies geht eine gute Viertelstunde lang so weiter, bis Morrie schließlich das Schweigen mit einem Flüstern bricht.
»Was geschieht hier?« fragt er.
Und langsam beginnt eine Diskussion – so wie Morrie es beabsichtigt hatte – über die Wirkung des Schweigens auf menschliche Beziehungen. Warum macht Schweigen uns verlegen? Welchen Trost finden wir in all dem Lärm?
Mich selbst stört das Schweigen nicht. Trotz all des Lärms, den ich
zusammen mit meinen Freunden mache, fühle ich mich noch immer nicht wohl dabei, vor anderen über meine Gefühle zu sprechen – vor allem nicht vor Klassenkameraden. Ich könnte stundenlang in der Stille sitzen, wenn es das ist, was der Kurs verlangt.
Auf meinem Weg nach draußen hält Morrie mich an. »Du hast heute nicht viel gesagt«, bemerkt er.
»Ich weiß es nicht. Ich hatte einfach nichts hinzuzufügen.«
»Ich glaube, du hast eine Menge hinzuzufügen.Weißt du, Mitch, du erinnerst mich an jemanden, der auch immer gerne alles für sich behielt, als er jünger war.«
»Und wer war das?«
»Ich.«
Der zweite Dienstag
Wir reden über Selbstmitleid
Am nächsten Dienstag kam ich wieder. Und an vielen Dienstagen, die darauf folgten. Ich freute mich auf diese Besuche mehr, als man in Anbetracht der Tatsache, daß ich siebenhundert Meilen flog, um bei einem sterbenden Mann zu sitzen, vermuten sollte. Aber ich schien in eine Zeitnische hineinzuschlüpfen, wenn ich Morrie besuchte, und wenn ich dort war, mochte ich mich selbst lieber. Mittlerweile lieh ich mir für die Fahrt vom Flughafen zu seinem Haus kein Handy mehr. Laß sie warten, sagte ich mir, Morrie nachahmend.
Die Situation in Detroit hatte sich nicht verbessert. Tatsächlich war sie eskaliert, es kam zu bösen Konfrontationen zwischen Streikposten und Ersatzarbeitskräften, Leute wurden festgenommen und geschlagen, Menschen lagen vor Lieferwagen auf der Straße.
Im Licht dieser Erkenntnis empfand ich meine Besuche bei Morrie wie ein reinigendes Bad menschlicher Freundlichkeit. Wir redeten über das Leben, und wir redeten über Liebe. Wir redeten über eines von Morries Lieblingsthemen,
Mitgefühl, und warum es unserer Gesellschaft so sehr daran mangelt. Vor meinem dritten Besuch hielt ich an einem Supermarkt namens Bread and Circus an – ich hatte ihre Tragetaschen in Morries Haus gesehen und vermutete, daß er die Lebensmittel dort mochte. Ich füllte meinen Einkaufswagen mit Plastikbehältern vom Tresen für frische Fertiggerichte: Köstlichkeiten wie Vermicelli mit Gemüse und Möhrensuppe und Bakhlava.
Als ich Morries Arbeitszimmer betrat, hielt ich die Plastiktüten hoch, als hätte ich soeben eine Bank ausgeraubt.
»Der Essensmann!« rief ich.
Morrie verdrehte die Augen und lächelte.
Mittlerweile hielt ich nach Anzeichen für das Fortschreiten der Krankheit Ausschau. Seine Finger funktionierten noch gut genug, um mit einem Bleistift zu schreiben oder seine Brille zu halten, aber er konnte seine Arme nicht sehr viel höher als bis zur Brust heben. Er verbrachte immer weniger Zeit in der Küche oder im Wohnzimmer. Er hielt sich meistens in seinem Arbeitszimmer auf, wo er in einem großen Sessel mit verstellbarer Rückenlehne saß, der gepolstert war mit Kissen, Wolldecken und speziell zugeschnittenen Schaumstoffteilen, die seine Füße hielten und seine verkümmerten Beine unterstützten. Neben ihm lag immer eine Glocke, und wenn sein Kopf umgebettet werden mußte oder er »auf den Nachtstuhl« gehen mußte, wie er es ausdrückte, dann schwang er die Glocke und Connie, Tony, Bertha oder Amy – seine kleine Armee von Pflegepersonal – kamen ins
Zimmer geeilt. Es war nicht immer leicht für ihn, die Glocke hochzuheben, und er fühlte sich frustriert, wenn er es nicht schaffte, sie zum Läuten zu bringen.
Ich fragte Morrie, ob er sich selbst bemitleide.
»Manchmal, am Morgen«, sagte er. »Das ist die Zeit, in der ich trauere. Ich betaste meinen Körper, ich bewege meine Finger und meine Hände – alles, was ich noch bewegen kann –, und ich betrauere, was ich verloren habe. Ich betrauere die langsame, heimtückische Art, wie ich sterbe. Aber dann höre ich auf zu trauern.«
»Einfach so?«
»Ich gestatte mir, einmal richtig zu weinen, wenn ich das brauche. Aber dann konzentriere ich mich auf all die guten Dinge, die es noch in meinem Leben gibt. Auf die Leute, die mich besuchen kommen. Auf die Geschichten, die ich
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