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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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schmerzt Sie noch immer?«
    »Und ob!« flüsterte Morrie.



Der Professor I
    Er war acht Jahre alt. Vom Krankenhaus kam ein Telegramm, und da sein Vater, ein russischer Einwanderer, kein Englisch lesen konnte, mußte Morrie ihm den Text vorlesen. Er las die Nachricht vom Tod seiner Mutter wie ein Schüler, der vor der Klasse steht. »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …«, begann er.
    Am Morgen der Beerdigung kam Morrie mit seinen Verwandten die Stufen des Mietshauses, in dem er wohnte, an der armen Lower East Side von Manhattan, herunter. Die Männer trugen dunkle Anzüge, die Frauen trugen Schleier. Die Kinder aus der Nachbarschaft machten sich auf den Weg zur Schule, und als sie an ihm vorbeikamen, sah Morrie zu Boden, beschämt, daß seine Klassenkameraden ihn so sahen. Eine seiner Tanten, eine außerordentlich dicke Frau, packte Morrie und begann zu jammern: »Was wirst du ohne deine Mutter machen? Was wird bloß aus dir werden?«
    Morrie brach in Tränen aus. Seine Klassenkameraden rannten davon.
    Auf dem Friedhof sah Morrie zu, wie sie Erde in das Grab seiner Mutter schaufelten. Er versuchte, sich an die zärtlichen Augenblicke zu erinnern, die sie miteinander geteilt hatten, als sie noch lebte. Sie hatte einen Süßwarenladen geführt, bis sie krank wurde, und danach hatte sie meistens geschlafen oder am Fenster gesessen und immer zerbrechlich und schwach ausgesehen. Manchmal rief sie nach ihrem Sohn, damit er ihr Medizin holte, und der kleine Morrie, der auf der Straße Schlagball spielte, tat, als hörte er sie nicht. Insgeheim glaubte er, er könnte die Krankheit zum Verschwinden bringen, wenn er sie ignorierte.
    Wie sonst konnte ein Kind dem Tod begegnen?
    Morries Vater, den jedermann Charlie nannte, war nach Amerika gekommen, um der russischen Armee zu entfliehen. Er arbeitete in der Pelzbranche, war aber ständig arbeitslos. Ungebildet und der englischen Sprache kaum mächtig, war er schrecklich arm, und die Familie lebte die meiste Zeit von der Sozialhilfe. Ihre Wohnung war ein dunkler, vollgestopfter, deprimierender Ort. Es gab keinerlei Luxus. Kein Auto. Manchmal schrubbten Morrie und sein jüngerer Bruder David für einen Nickel Verandastufen.
    Nach dem Tod ihrer Mutter wurden die beiden Jungen in ein kleines Hotel in denWäldern Connecticuts geschickt, wo mehrere Familien sich eine große Hütte und eine Gemeinschaftsküche teilten. Die frische Luft könnte den Kindern guttun, dachten die Verwandten. Morrie und David hatten noch nie so viel Laub gesehen, und sie rannten herum und
spielten in den Feldern. Eines Abends nach dem Abendessen machten sie einen Spaziergang, und es begann zu regnen. Anstatt wieder ins Haus zurückzukehren, spielten sie stundenlang im Regen.
    Als sie am nächsten Morgen aufwachten, sprang Morrie aus dem Bett.
    »Los«, sagte er zu seinem Bruder. »Steh auf.«
    »Ich kann nicht.«
    »Was heißt das?«
    Panik spiegelte sich in Davids Gesicht. »Ich kann mich nicht … bewegen.«
    Er hatte Kinderlähmung.
    Natürlich war nicht der Regen die Ursache für die Krankheit. Aber ein Kind in Morries Alter konnte das nicht verstehen. Für eine lange Zeit – während sein Bruder immer wieder in einer Spezialklinik war und Schienen an seinen Beinen tragen mußte, wodurch er schließlich humpelte – fühlte Morrie sich verantwortlich.
    Deshalb ging er morgens in eine Synagoge – allein, da sein Vater kein religiöser Mensch war. Dort stand er zwischen den hin- und herschaukelnden Männern in ihren langen schwarzen Mänteln, und er bat Gott, sich um seine tote Mutter und seinen kranken Bruder zu kümmern.
    Und nachmittags stand er am Fuß der Treppe, die zur Untergrundbahn führte, und verkaufte Zeitschriften. Alles Geld, das er verdiente, gab er seiner Familie, damit sie davon Essen kauften.
    Am Abend sah er zu, wie sein Vater schweigend dasaß und aß, und er hoffte vergeblich auf Zuwendung, Kommunikation, Wärme.
    Mit neun Jahren hatte Morrie das Gefühl, als trüge er einen Berg auf seinen Schultern.
     
    Aber im folgenden Jahr trat ein rettender Engel in Morries Leben: seine neue Stiefmutter, Eva. Sie war eine kleine Frau aus Rumänien mit klaren Gesichtszügen, lockigem braunem Haar und der Energie von zweien. Sie hatte eine innere Kraft, die die düstere Atmosphäre, die sein Vater um sich verbreitete, ein wenig lichtete. Sie redete, wenn ihr Mann schwieg, sie sang den Kindern abends Lieder vor. Morrie fand Trost in ihrer besänftigenden Stimme, im Unterricht, den

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