Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Tag, Woche für Woche immer mehr Besitz von ihm. Eines Morgens fuhr er den Wagen rückwärts aus der Garage und schaffte es kaum, auf die Bremse zu treten. Das war das Ende seines Autofahrens.
Immer wieder stolperte er, deshalb kaufte er einen Stock. Das war das Ende seines freien und aufrechten Ganges.
Als er einmal beim YMCA seine übliche Runde schwimmen gehen wollte, entdeckte er, daß er sich nicht mehr alleine ausziehen konnte. Deshalb stellte er seinen ersten Betreuer ein – einen Theologiestudenten namens Tony –, der ihm half, ins Schwimmbecken rein- und wieder rauszukommen, und ebenso in seine Badehose und wieder heraus. Im Umkleideraum taten die anderen Schwimmer so, als würden sie ihn nicht anstarren. Aber sie taten es trotzdem. Das war das Ende seiner Privatsphäre.
Im Herbst 1994 betrat Morrie den hügeligen Campus des Brandeis College, um sein letztes Seminar zu halten. Er hätte es natürlich auch ausfallen lassen können. Die Universität hätte volles Verständnis gehabt. Warum sollte er vor so vielen
Leuten leiden? Bleiben Sie zu Hause. Bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung. Aber der Gedanke aufzugeben kam Morrie nicht.
Statt dessen humpelte er ins Klassenzimmer, das mehr als vierzig Jahre lang sein Zuhause gewesen war. Wegen des Stocks dauerte es eine Weile, bis er seinen Stuhl erreichte. Schließlich setzte er sich, zog sich die Brille von der Nase und schaute in die jungen Gesichter, die schweigend zurückstarrten.
»Meine Freunde, ich vermute, Sie sind alle wegen des Seminars in Sozialpsychologie gekommen. Ich habe dieses Seminar zwanzig Jahre lang gehalten, und dies ist das erste Mal, daß ich sagen kann, es ist überhaupt kein Risiko, es zu belegen, da ich an einer tödlichen Krankheit leide. Möglicherweise werde ich nicht lange genug leben, um bis zum Ende des Semesters zu unterrichten.
Wenn Sie das Gefühl haben, dies sei ein Problem, dann habe ich volles Verständnis, wenn Sie das Seminar streichen.«
Er lächelte.
Und das war das Ende seines Geheimnisses.
ALS ist wie eine brennende Kerze: Sie schmilzt die Nerven weg und läßt den Körper als einen Haufen Wachs zurück. Häufig beginnt die Krankheit an den Beinen und breitet sich dann nach oben aus. Man verliert die Kontrolle über die Oberschenkelmuskeln, so daß man sich nicht länger aufrecht halten kann. Man verliert die Kontrolle über die Rumpfmuskeln, so daß man nicht mehr gerade sitzen kann. Am Ende atmet
man durch eine Röhre in einem Loch im Hals, während die Seele, hellwach, in einer schlaffen Hülle gefangen ist. Vielleicht ist man fähig zu blinzeln oder mit der Zunge zu schnalzen, wie ein Wesen aus einem Science-fiction-Film, der Mann, der in seinem eigenen Fleisch erfroren ist. Dies dauert nicht länger als fünf Jahre, von dem Tag an, an dem man die Krankheit bekommt.
Morries Ärzte vermuteten, daß er noch zwei Jahre zu leben hätte.
Morrie wußte, daß es weniger war.
Aber mein alter Professor hatte eine tiefgreifende Entscheidung getroffen, eine, die er von dem Tag an, an dem er mit einem Schwert über dem Kopf aus dem Sprechzimmer des Arztes kam, umzusetzen begann. Werde ich jetzt nach und nach verwelken und verschwinden, oder werde ich das Beste aus der Zeit machen, die mir verbleibt? hatte er sich gefragt.
Er würde nicht verwelken. Er würde sich nicht schämen zu sterben.
Statt dessen war er entschlossen, den Tod zu seinem letzten Projekt zu machen, zum zentralen Aspekt der Zeit, die ihm verblieb. Da jeder einmal sterben würde, könnte er anderen von großem Nutzen sein, nicht wahr? Er könnte sich zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen. Ein menschliches Lehrbuch. Studier mich, wie ich langsam und geduldig sterbe. Beobachte, was mit mir geschieht. Lern mit mir.
Morrie würde jene endgültige Brücke zwischen Leben und Tod überqueren und darüber Bericht erstatten.
Das Herbstsemester verstrich rasch. Die Pillendosis stieg. Die Therapie wurde zur Routine. Krankenschwestern kamen in sein Haus, um mit Morries schwächer werdenden Beinen zu arbeiten, um die Muskeln aktiv zu halten, sie bogen die Beine vor und zurück, als pumpten sie Wasser aus einem Brunnen. Masseure kamen einmal in der Woche vorbei und versuchten, die ständige schwere Steifheit, die er empfand, zu lindern. Er traf Meditationslehrer und schloß seine Augen und kanalisierte seine Gedanken, bis die Welt auf sein eigenes Atmen zusammenschrumpfte, ein und aus, ein und aus.
Eines Tages, als er schon seinen
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