Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Schwachsinn.«
»Hattest du nie Angst davor, alt zu werden?« fragte ich.
»Mitch, ich nehme das Älterwerden an .«
»Annehmen?«
»Es ist sehr einfach. Während du älter wirst, lernst du immer mehr dazu. Wenn du ewig zweiundzwanzig bliebest, würdest du ewig so unwissend sein, wie du mit zweiundzwanzig warst. Älterwerden bedeutet nicht bloß Verfall. Es bedeutet Wachstum. Es beinhaltet mehr als die negative Perspektive, daß du sterben wirst, es beinhaltet auch das Positive, daß du verstehst , daß du sterben wirst und daß du deshalb ein besseres Leben lebst.«
»Ja«, sagte ich, »aber wenn das Sterben so wertvoll ist, warum sagen die Leute dann immer: ›Ach, wenn ich doch noch mal jung wäre.‹ Du hörst die Leute nie sagen: ›Ich wünschte, ich wäre fünfundsechzig.‹«
Er lächelte. »Weißt du, worauf das hinweist? Auf ein Leben ohne Zufriedenheit. Ein Leben ohne Erfüllung. Ein Leben, in dem kein Sinn gefunden wurde. Denn wenn du einen Sinn in deinem Leben gefunden hast, dann möchtest du nicht zurückgehen. Du möchtest nach vorn gehen. Du möchtest mehr sehen, mehr tun. Du kannst es nicht erwarten, fünfundsechzig zu werden.
Es gibt da etwas, was du wissen solltest. Alle jüngeren Leute sollten das wissen. Wenn du ständig dagegen ankämpfst, älter zu werden, dann wirst du immer unglücklich sein, denn es wird sowieso geschehen. Und … Mitch?«
Er senkte die Stimme.
»Tatsache ist, daß auch du irgendwann sterben wirst.«
Ich nickte.
»Es spielt keine Rolle, was du dir selbst einredest.«
»Ich weiß.«
»Aber hoffentlich«, sagte er, »erst nach einer langen, langen Zeit.«
Morrie schloß die Augen mit einem friedlichen Gesichtsausdruck und bat mich dann, ihm die Kissen hinter seinem Kopf zurechtzulegen. Sein Körper mußte immer wieder ein wenig umgebettet werden, damit er sich wohl fühlte. Mit Hilfe von weißen Kissen, gelbem Schaumstoff und blauen Handtüchern saß er einigermaßen aufrecht im Sessel. Wenn man nur flüchtig hinschaute, hatte man den Eindruck, daß Morrie per Post verschickt werden sollte.
»Danke«, flüsterte er, als ich ihm die Kissen zurechtrückte.
»Kein Problem«, sagte ich.
»Mitch. Was denkst du?«
Ich schwieg einen Moment, bevor ich antwortete. »Okay«, sagte ich. »Ich frage mich, wieso du jüngere, gesunde Leute nicht beneidest.«
»Oh, vermutlich tue ich das.« Er schloß die Augen. »Ich beneide sie darum, daß sie ins Fitneßstudio oder schwimmen gehen können. Oder tanzen. Vor allem wegen des Tanzens. Aber der Neid überkommt mich, ich spüre ihn, und dann lasse ich ihn los. Entsinnst du dich, was ich über das Sich-Distanzieren sagte? Laß es los. Sag dir: ›Das ist Neid. Ich werde mich jetzt davon trennen.‹ Und dann entferne dich davon.«
Er hustete – ein langes, kratziges Husten –, hielt ein Papiertuch
an seinen Mund und spuckte schwach hinein. Während ich dort bei ihm saß, fühlte ich mich soviel stärker als er, auf lächerliche Weise stärker, als könnte ich ihn hochheben und wie einen Sack Mehl über meine Schulter werfen. Dieses körperliche Überlegenheitsgefühl beschämte mich, weil ich mich ihm in keiner anderen Hinsicht überlegen fühlte.
»Wie schaffst du es, dich daran zu hindern …«
»Was?«
»Mich zu beneiden?«
Er lächelte.
»Mitch, es ist unmöglich für die Alten, die Jungen nicht zu beneiden. Aber es geht darum, das zu akzeptieren, was du bist, und es anzunehmen. Du bist jetzt in den Dreißigern. Das ist deine Zeit. Für mich ist meine Zeit, in den Dreißigern zu sein, verstrichen, und jetzt ist es für mich an der Reihe, achtundsiebzig zu sein.
Du mußt herausfinden, was in deinem Leben, so wie es jetzt ist, gut und wahr und schön ist. Zurückzuschauen bewirkt, daß du mit anderen konkurrierst. Und was das Altern angeht, so gibt es keinen Grund, mit anderen zu konkurrieren.«
Er atmete aus und senkte die Augen, als wollte er zuschauen, wie sich sein Atem in der Luft verteilte.
»Die Wahrheit ist: Ein Teil von mir ist in jedem Alter. Ich bin ein Dreijähriger, ich bin ein Fünfjähriger, ich bin ein Siebenunddreißigjähriger, ich bin ein Fünfzigjähriger. Ich habe
alle diese Altersstufen durchlebt, und ich weiß, wie das ist. Ich genieße es, ein Kind zu sein, wenn es angemessen ist, ein Kind zu sein. Ich genieße es, ein weiser alter Mann zu sein, wenn es angemessen ist, ein weiser alter Mann zu sein. Stell dir vor, was ich alles sein kann! Ich bin in jedem Alter zugleich, einschließlich
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