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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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Patienten beobachtete und ihre Behandlung beschrieb. Während der Gedanke heute durchaus üblich ist, hatte er in den fünfziger Jahren etwas Bahnbrechendes. Morrie sah Patienten, die den ganzen Tag lang schrien. Patienten, die die ganze Nacht lang weinten. Patienten, die ihre Unterwäsche beschmutzten. Patienten, die sich weigerten zu essen, die man
festhalten, unter Medikamente setzen, intravenös ernähren mußte.
    Eine Patientin, eine Frau mittleren Alters, kam jeden Tag aus ihrem Zimmer, legte sich mit dem Gesicht nach unten auf den Fliesenfußboden und blieb dort stundenlang liegen, während die Ärzte und Schwestern um sie herumgingen. Morrie sah die Szene mit Entsetzen. Er machte sich Notizen, denn das war seine Aufgabe. Jeden Tag tat die Frau dasselbe: Sie kam am Morgen aus ihrem Zimmer, legte sich auf den Fußboden, blieb bis zum Abend dort liegen, redete mit niemandem, wurde von allen ignoriert. Es machte Morrie traurig. Er begann, sich neben sie auf den Boden zu setzen, legte sich sogar neben sie, versuchte, sie aus ihrem Elend herauszureißen. Schließlich brachte er sie dazu, sich aufzusetzen und sogar in ihr Zimmer zurückzukehren. Er fand heraus, was sie mehr als alles andere wollte, nämlich dasselbe, was viele Menschen wollen – jemanden, der bemerkte, daß sie da war.
    Morrie arbeitete fünf Jahre lang in Chestnut Lodge. Obwohl es nicht gern gesehen wurde, freundete er sich mit einigen der Patienten an, einschließlich einer Frau, die mit ihm darüber Witze machte, wieviel Glück sie habe, dort zu sein: »Weil mein Mann so reich ist, daß er es sich leisten kann. Können Sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn ich in einer dieser billigen Klapsmühlen sein müßte?«
    Eine andere Frau, die jeden anderen anspuckte, schloß Morrie in ihr Herz und nannte ihn ihren Freund. Sie redeten
jeden Tag miteinander, und das Personal empfand es zumindest als ermutigend, daß jemand zu ihr durchgedrungen war. Eines Tages rannte sie weg, und Morrie wurde gebeten, dabei zu helfen, sie zurückzuholen. Sie fanden sie in einem nahe gelegenen Laden, wo sie sich im hinteren Bereich versteckte. Als Morrie hineinging, schoß sie ihm einen wütenden Blick zu.
    »Also sind Sie auch einer von denen«, sagte sie giftig.
    »Einer von welchen?«
    »Meinen Gefängniswärtern.«
    Morrie fand heraus, daß die meisten der Patienten dort in ihrem Leben zurückgewiesen und ignoriert worden waren, daß man ihnen das Gefühl vermittelt hatte, daß sie nicht existierten. Es mangelte ihnen auch an Zuwendung und Mitgefühl  – Gefühle, die sich beim Personal rasch erschöpften. Viele dieser Patienten waren wohlhabend, stammten aus reichen Familien, doch der Reichtum verschaffte ihnen weder Glück noch Zufriedenheit. Dies war eine Lektion, die er nie vergaß.
     
    Häufig neckte ich Morrie, daß er irgendwo in den sechziger Jahren steckengeblieben sei. Er antwortete, daß die Sechziger gar nicht so schlecht gewesen seien, verglichen mit den Zeiten, in denen wir jetzt lebten.
    Nachdem er in der Psychiatrie gearbeitet hatte, kam er kurz vor Beginn der sechziger Jahre zum Brandeis College. Innerhalb weniger Jahre wurde der Campus zu einer Brutstätte
für die kulturelle Revolution. Drogen, Sex, Rassenproblematik, Vietnamproteste. Abbie Hoffmann studierte am Brandeis College, ebenso Jerry Rubin und Angela Davis. Morrie hatte viele der »radikalen« Studenten in seinen Kursen.
    Ein Grund dafür war, daß die soziologische Fakultät sich engagierte, anstatt einfach nur zu unterrichten. Sämtliche Mitglieder waren beispielsweise erbitterte Kriegsgegner. Als die Professoren erfuhren, daß Studenten, die nicht einen bestimmten Punktedurchschnitt zu halten vermochten, ihre Zurückstellung vom Wehrdienst verlieren und eingezogen werden konnten, beschlossen sie, überhaupt keine Noten mehr zu geben. Als die Verwaltung sagte: »Wenn Sie diesen Studenten keine Noten geben, dann fallen sie eben durch«, hatte Morrie eine Lösung parat: »Geben wir ihnen doch allen ein A.« Und das machten sie dann auch.
    Die sechziger Jahre machten nicht nur den Campus liberaler, auch das Personal in Morries Abteilung wurde offener, angefangen mit den Jeans und Sandalen, die man jetzt bei der Arbeit trug, bis zu der Einstellung, daß das Klassenzimmer ein lebender, atmender Ort sei. Man bewertete Diskussionen höher als Vorträge, Erfahrung höher als Theorie. Man schickte Studenten in den tiefen Süden, damit sie sich für Bürgerrechtsprojekte engagierten, und in

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