Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
wirst du überwältigt sein von dem, was zurückkommt.«
Er hustete und griff nach der kleinen Glocke, die auf dem Sessel lag. Er bekam sie nicht zu fassen, und schließlich nahm ich sie und legte sie ihm in die Hand.
»Danke«, flüsterte er. Er schüttelte sie schwach, um Connie herbeizurufen.
»Dieser Typ, dieser Ted Turner«, sagte Morrie, »ist ihm nichts anderes eingefallen, das er auf seinen Grabstein hätte schreiben können?«
»Jede Nacht, wenn ich mich schlafen lege, sterbe ich.
Und am nächsten Morgen, wenn ich aufwache,
bin ich wiedergeboren.«
MAHATMA GANDHI
Der neunte Dienstag
Wir reden über die Unendlichkeit der Liebe
Die Blätter hatten begonnen, sich zu verfärben, so daß ich auf der Fahrt nach West Newton das Gefühl hatte, in einem Meer von Gold zu schwimmen. Daheim in Detroit stagnierte mittlerweile der Arbeitskampf, wobei jede Seite die andere beschuldigte, daß sie nicht bereit sei zu kommunizieren. Die Berichte in den Fernsehnachrichten waren genauso deprimierend. Im Staat Kentucky warfen drei Männer Stücke von einem Grabstein eine Brücke hinunter, zerschmetterten die Windschutzscheibe eines vorbeifahrenden Wagens und töteten ein junges Mädchen, das mit seiner Familie auf einer Pilgerfahrt war. In Kalifornien ging der O.-J.-Simpson-Prozeß seinem Ende zu, und das ganze Land schien davon besessen zu sein. Selbst auf Flughäfen hingen Fernsehmonitore, die auf CNN eingestellt waren, so daß man das Neueste über O. J. mitbekommen konnte, während man zum Gate ging.
Ich hatte mehrere Male versucht, meinen Bruder in Spanien anzurufen. Ich hinterließ Botschaften, sagte ihm, daß ich unbedingt mit ihm reden wolle, daß ich eine Menge über uns
nachgedacht habe. Ein paar Wochen später fand ich eine kurze Nachricht auf dem Anrufbeantworter, die besagte, daß alles in Ordnung sei und daß es ihm leid tue, aber er habe wirklich keine Lust, darüber zu reden, daß er krank war.
Für meinen alten Professor war es nicht das Reden über die Krankheit, das ihn niederdrückte, sondern das Kranksein selbst. Seit meinem letzten Besuch hatte er einen Katheter bekommen, und seine Beine brauchten ständige Pflege. Er konnte noch immer Schmerzen empfinden, obwohl er sie nicht bewegen konnte (eine der grausamen kleinen Ironien von ALS), und wenn seine Füße nicht genau soundso viele Zentimeter über die Schaumstoffkissen hinausragten, fühlte es sich an, als steche ihn jemand mit einer Gabel. Mitten in einem Gespräch mußte Morrie seinen Besucher bitten, seinen Fuß anzuheben und ihn einen Zentimeter zu verrücken oder seinen Kopf zu verschieben, so daß er bequemer in den Kissen lag. Können Sie sich vorstellen, daß Sie nicht in der Lage sind, Ihren eigenen Kopf zu bewegen?
Bei jedem Besuch schien Morrie mehr mit seinem Sessel zu verschmelzen, wobei sein Rückgrat dessen Form annahm. Dennoch bestand er jeden Morgen darauf, aus seinem Bett gehoben, in sein Arbeitszimmer gerollt und dort zwischen seine Bücher und Papiere und den Hibiskus auf der Fensterbank plaziert zu werden. Auf seine charakteristische Art entdeckte er darin etwas Philosophisches.
»Ich habe das in meinem neuesten Aphorismus zusammengefaßt«, sagte er.
»Laß hören.«
»Wenn du im Bett bleibst, bist du tot.«
Er lächelte. Nur Morrie konnte über etwas Derartiges lächeln.
Er hatte von den »Nightline« -Leuten und von Ted Koppel selbst Anrufe bekommen.
»Sie wollen kommen und eine weitere Sendung mit mir machen«, sagte er. »Aber sie sagen, daß sie noch warten wollen.«
»Bis wann? Bis zu deinem letzten Atemzug?«
»Mag sein. So lange wird das ja nicht mehr dauern.«
»Sag das nicht.«
»Es tut mir leid.«
»Es ärgert mich, daß sie warten wollen, bis es dir richtig schlecht geht.«
»Das ärgert dich, weil du mich ein bißchen beschützen willst.«
Er lächelte. »Mitch, vielleicht benutzen sie mich für ein kleines Drama. Das ist okay. Vielleicht benutze ich sie ebenfalls. Sie helfen mir, meine Botschaft Millionen von Menschen zu übermitteln. Ich könnte das nicht ohne sie tun, richtig? Also ist es ein Kompromiß.«
Er hustete, was sich in ein langgezogenes Gurgeln verwandelte und mit einem weiteren Klumpen Schleim endete, den er in ein zerknülltes Taschentuch spuckte.
»Jedenfalls«, sagte Morrie, »habe ich ihnen gesagt, daß sie besser nicht mehr allzulange warten sollten, weil dann meine
Stimme nicht mehr da ist. Wenn diese Sache erst einmal meine Lunge erreicht, wird das Reden
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