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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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waschen. Mit Ausnahme des Atmens und des Herunterschluckens seines Essens war er in fast allen Dingen von anderen abhängig.
    Ich fragte Morrie, wie er es schaffte, sich trotz allem eine positive Lebenseinstellung zu bewahren.
    »Mitch, es ist seltsam«, sagte er. »Ich bin ein unabhängiger Mensch, deshalb neige ich dazu, gegen all diese Dinge anzukämpfen  – daß man mir aus dem Wagen hilft, daß jemand anders mich ankleidet. Ich schämte mich ein wenig, weil unsere Kultur uns vermittelt, daß wir uns schämen sollten, wenn wir uns nicht selbst den Hintern abwischen können. Aber dann dachte ich: Vergiß, was die Gesellschaft sagt. Ich habe sie die meiste Zeit meines Lebens ignoriert. Ich werde mich nicht schämen. Was ist schon dabei?
    Und weißt du was? Dann ist was ganz Seltsames passiert.«
    »Was denn?«
    »Ich begann, meine Abhängigkeit zu genießen . Jetzt genieße ich es, wenn jemand mich auf die Seite dreht und Creme auf meinen Hintern reibt, damit ich keine wunden Stellen bekomme. Oder wenn man mir die Stirn abwischt oder die Beine massiert. Das ist ein wunderbares Gefühl. Ich schließe meine Augen und gebe mich völlig hin. Und es scheint mir sehr vertraut zu sein.
    Es ist, als würde man wieder zu einem Kind. Da ist jemand, der dich badet. Jemand, der dich hochhebt. Jemand, der dir den Hintern abwischt. Wir alle wissen, wie man ein Kind ist. Es ist in uns drin. Für mich geht es nur darum, mich zu erinnern, wie sehr ich es genieße.
    Die Wahrheit ist: Als unsere Mütter uns in den Armen hielten, uns wiegten, uns die Köpfe streichelten, da hat niemand von uns jemals genug davon bekommen. Wir alle sehnen uns in gewisser Weise danach, zu jenen Zeiten zurückzukehren,
als wir völlig versorgt wurden, als man uns bedingungslose Liebe, bedingungslose Aufmerksamkeit schenkte. Die meisten von uns bekamen nicht genug davon. Ich weiß, daß zumindest ich nicht genug davon bekam.«
    Ich schaute Morrie an, und plötzlich wußte ich, warum er es so genoß, wenn ich mich über ihn beugte und sein Mikrofon festklemmte oder die Kissen aufschüttelte oder ihm die Augen wischte. Eine menschliche Berührung. Mit achtundsiebzig Jahren war er ein Erwachsener, der anderen Menschen etwas gab, und ein Kind, das von anderen etwas bekam.
     
    Später an jenem Tag redeten wir über das Älterwerden. Oder vielleicht sollte ich sagen, die Furcht vor dem Älterwerden – ein weiterer Punkt auf meiner Liste zu dem Thema: Was beunruhigt meine Generation. Auf meiner Fahrt vom Bostoner Flughafen hatte ich die Reklametafeln gezählt, auf denen junge und schöne Menschen abgebildet waren. Da war ein gutaussehender junger Mann mit einem Cowboyhut, der eine Zigarette rauchte, zwei schöne junge Frauen, die über einer Flasche Shampoo lächelten, ein mürrisch aussehendes junges Mädchen in einer Jeans, deren Reißverschluß offenstand, und eine sexy Frau in einem schwarzen Samtkleid neben einem Mann in einem Frack. Beide hielten ein Glas Scotch in der Hand.
    Nicht ein einziges Mal sah ich jemanden, der älter aussah als fünfunddreißig. Ich sagte zu Morrie, daß ich bereits das
Gefühl hätte, auf der anderen Seite des Hügels zu sein, wie sehr ich mich auch bemühte, auf seinem Gipfel zu bleiben. Ich strengte mich ständig an. Achtete darauf, was ich aß. Überprüfte meinen Haaransatz im Spiegel. Während ich früher stolz gewesen war, mein Alter zu nennen – wegen all der Dinge, die ich in so jungen Jahren geschafft hatte –, erwähnte ich es mittlerweile nicht mehr, aus Angst, daß ich der Zahl vierzig und damit dem professionellen Vergessen allzu nahe gerückt war.
    Morrie sah das Älterwerden unter einem positiveren Aspekt.
    »All diese Verherrlichung der Jugend – da mach’ ich nicht mit«, sagte er. »Hör mal, ich weiß, was für ein Elend es sein kann, jung zu sein, deshalb erzähl mir nicht, daß es so großartig sei. All diese jungen Leute, die zu mir kamen mit ihren Kämpfen, ihrem Streit, ihren Gefühlen der Unzulänglichkeit, dem Empfinden, daß das Leben elend sei, so schlimm, daß sie sich umbringen wollten …
    Und zusätzlich zu all dem Jammer sind die Jungen nicht weise. Sie verstehen sehr wenig vom Leben. Wer möchte Tag für Tag leben, wenn er nicht weiß, was wirklich läuft? Wenn die Leute dich manipulieren, dir sagen, du brauchst nur dieses Parfüm zu kaufen, und du wirst schön sein, oder dieses Paar Jeans, und du wirst sexy sein – und du ihnen glaubst! Es ist ein solcher

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