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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Wortberg
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treffen sie sich zum Gesprächskreis.
    »Wir wollen Ihnen helfen, so viel Eigenständigkeit wie möglich zurückzugewinnen«, sagt die Therapeutin.
    So viel Eigenständigkeit wie möglich. Catrin würde ihr am liebsten ins Gesicht schlagen.
    Ihr Kopf ist voller Bilder. Erinnerungen, die Veränderungen ausschließen. Und mit jedem Tag mehr verblassen. Steine, die aus einer Mauer brechen, Details, die sich nicht mehr abrufen lassen. Was sie sieht in ihrem Kopf ist nur das, was war, nicht das, was ist. Mit jedem Tag riecht sie mehr, hört sie besser. An die Stelle von Farben und Formen treten Gerüche und Geräusche. Ihr Körper ist wie ein Messgerät voller Sensoren.
    Mit einem Pfleger unternimmt sie Ausflüge in das nahe gelegene Dorf. Der Wind, der zwischen den Häusern hindurchstreicht, der Duft nach Brot, der eine Bäckerei verrät, das Rauschen der Bäume, das einen Wetterwechsel ankündigt. Marken, mit deren Hilfe sie ihre Position bestimmt, eine Straßenkarte in ihrem Gehirn. Ihr Leben bemisst sich in Schritten. Ihr Kopf ist ein U-Boot, ihr Langstock das Sonar. Die Welt ein Ozean, weit und unergründlich.
    »Sie machen das sehr gut«, sagt der Pfleger.
    Was bleibt mir anderes übrig, denkt sie.
    Sie weiß, dass sie die Postkarten ihrer Erinnerung überschreiben muss. Auch wenn sie Angst hat, dass ihr mit den Bildern in ihrem Kopf auch das Leben abhanden kommt.
    »Sie sind in ein fremdes Land gezogen«, sagt die Therapeutin im Gesprächskreis. »Sie können dort nur ankommen, wenn Sie nicht weiter an Ihrer alten Heimat festhalten.«
    Eine der Patientinnen fängt an zu kichern.
    »Warum lachen Sie?«, fragt die Therapeutin.
    »Weil das alles so absurd ist«, sagt die Patientin. Sie kichert jetzt nicht mehr. Stattdessen fängt sie an zu weinen.
    Der Pfleger fährt mit Catrin in die nächste Kleinstadt. Jede Bordsteinkante ist wie der Rand einer Schlucht, das Überqueren einer Straße wie ein Sprung ins Nichts, die Autos sind hungrige Tiere. Als Kind hatte sie Angst vor der Fensterlosigkeit von Kellern. Jetzt gibt es nur noch Keller.
    Was sie sehen will, muss sie ertasten. Eine Lehrerin bringt ihr die Blindenschrift bei. Sechs Punkte, drei in der Höhe, zwei in der Breite. Vierundsechzig Kombinationsmöglichkeiten für Buchstaben, Zahlen und Zeichen. Sie liest mit den Fingerkuppen. Um mit dem PC arbeiten zu können, lernt sie Computerbraille, das auf acht Punkten basiert. Ein Lesegerät wandelt die Buchstaben und Zeichen des Textes auf dem Monitor in kleine Stößel um, die aus der Benutzeroberfläche der Tastatur herausragen. Zweihundertsechsundfünfzig verschiedene Kombinationen. Sie übt wie besessen, sechs, sieben Stunden am Tag.
    »Warum gönnen Sie sich nicht mal eine Pause?«, fragt ihre Lehrerin.
    »Weil ich so schnell wie möglich hier wegwill«, sagt Catrin.
    Was sie am meisten hasst, sind die Besuche ihrer Eltern. Sie ertrinkt in den Tränen ihrer Mutter, sie erstickt an der Fürsorge ihres Vaters. Sie ist jedes Mal froh, wenn sie wieder fort sind.
    Und Martin, ihr zukünftiger Kapitän zur See? Seine breite Brust mit den dunkelblonden Haaren, darin das Herz eines Hasen. Wenn sie an ihn denkt, zieht sich ihre Brust zusammen. Was sie ihm gegenüber fühlte am Tag nach der erfolglosen Operation hat sich festgesetzt in ihr. Seine Bemühtheit stößt sie ab. Seine Schuldgefühle, weil er den Beifahrer-Airbag nicht wieder eingeschaltet hat, seine Angst, an sie gekettet zu bleiben, ein Leben lang, seine Sorge, sie könne irgendwann ein Kind von ihm wollen. Ein Kapitän, eine Blinde, ein Kind – wie soll das ge hen? Seine spärlichen Besuche. Die immergleiche Sprachlosigkeit. Das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Der un ausgesprochene Wunsch, das alles hinter sich zu lassen.
    Sie sitzt mit ihm in der Cafeteria der Rehaklinik. Die Versicherung hat endlich gezahlt, er hat sich ein neues Auto gekauft. Sie hat ihm den Computer gezeigt mit dem Lesegerät.
    »Unglaublich«, sagt er, »was heutzutage alles möglich ist.«
    Das Klappern der Teller und Tassen von der Ausgabe dringt zu ihnen herüber, das Stimmengemurmel an den Nebentischen. Er hat sich ein Stück Kirschstreusel mit Sahne geholt. Sie wollte nichts.
    »Ich möchte das auch lernen«, sagt er.
    »Wozu?«, fragt sie.
    »Na ja«, sagt er, »damit wir auf Augenhöhe ...«
    Er unterbricht sich. Augenhöhe. Das falsche Wort zur falschen Zeit.
    »Tut mir leid«, sagt er.
    Du tust mir leid, denkt sie.
    »In Wahrheit möchtest du das gar nicht«, sagt sie. »In

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