Dieser eine Moment (German Edition)
muss damit leben, nicht ihr.«
»Doch«, sagt ihr Vater, »wir auch.«
Als sie nach dem Abitur auszog, brach ihre Mutter zusammen. Sie hatte keine Aufgabe mehr. Allein mit sich und ihrer schal gewordenen Ehe. Jetzt hat sie wieder eine Aufgabe. Eine, die das Schicksal ihr geschenkt hat.
Sie kommt jeden Morgen. Sie hat ihren eigenen Schlüssel. Sie hilft Catrin beim Waschen und Anziehen, macht Frühstück, bringt sie mit dem Bus zur Uni, holt sie ab, wenn die Vorlesungen vorbei sind. Sie hat kleine Markierungen in Catrins Kleidung gestickt, in ihre Hosen, ihre T-Shirts, ihre Pullover. Für jede Farbe eine andere. »Damit du weißt, was du anziehst.«
Catrin dreht sich zur Seite, ihr Arm fühlt sich taub an. Sie nimmt die Hand von der Lampe, schiebt sie unter ihre Wange. Die frisch bezogene Bettdecke raschelt. Sie schließt ihre Augen. Was sie vor allem anderen nicht vergessen kann, ist das Letzte, was sie vor dem Unfall im Scheinwerferlicht des Autos gesehen hat: einen groß gewachsenen dürren Jungen auf einem Fahrrad, sechzehn vielleicht oder siebzehn, die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen. In seinem Gesicht der Ausdruck vollkommenen Glücks.
10
Dabei war er so glücklich gewesen. Wenigstens einen kurzen Moment lang. Ein paar Pedalumdrehungen, die er nicht in Zeit fassen kann. Im strömenden Regen unter einem schwarzgrauen Himmel, begleitet vom Donnergrollen eines Gewitters.
Er hört dieses Grollen oft, das Prasseln des Regens, nachts, wenn er nicht schlafen kann, weil ihn Catrins Augen anschauen in der Dunkelheit. Er hätte nicht auf Laura hören sollen, er hätte zur Polizei gehen sollen. Jetzt ist es zu spät.
Er liegt reglos da, seine Haut schweißnass, die Bettdecke eine zentnerschwere Last. Er hat geträumt. Von einem Gerstenfeld kurz vor der Ernte. Von einer Straße, die das Feld zerteilte, ein schnurgerades Band. Vom Sommerwind, der durch die Ähren strich unter einer gleißend hellen Sonne.
Die Straße ist frisch asphaltiert, seine Schuhe sinken ein im weichen Teer, die Luft flimmert, durch die Sohlen kann er die Hitze unter seinen Füßen spüren. Hinter ihm ein metallisches Rasseln. Er schaut sich um. Eine Straßenwalze rollt auf ihn zu, ein tonnenschweres Ungetüm aus Eisen und Stahl. Dunkler Qualm, der aus dem Auspuff quillt, der Walzenkörper glänzt in der Sonne. Geblendet kneift er die Augen zusammen. Niemand, der die Maschine steuert. Er versucht loszulaufen, sich in das nahe Feld zu retten, aber der klebrige Asphalt hält seine Schuhsohlen fest. Unaufhaltsam kommt die Walze näher. Er zerrt an den Schnürsenkeln, reißt seine Füße aus den Schuhen, fühlt den heißen Teer unter seinen nackten Fußsohlen, riecht den Gestank verschmorenden Fleisches. Im selben Augenblick spürt er den runden Metallkörper in seinem Rücken, kleine Teerbrocken, die auf der Walzfläche kleben und sich in seine Haut bohren. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich dem tonnenschweren Gewicht entgegenzustemmen. Es ist zu spät. Die Maschine drückt ihn nach vorne, sein Körper landet im heißen Teer. Der Schmerz ist überwältigend. Seine Beine unter der Walze sind nur noch ein Brei aus Fleisch und Knochen. Dann brechen seine Wirbel, einer nach dem anderen. Gesplitterte Rippen, die sich in seine Lungen bohren, Blut, das aus seinen Organen gepresst wird, sein platzendes Herz.
Er starrt hinaus in die sternenlose Nacht. Die kahlen Bäume wie tote Schatten. Wenn der Wind in Böen vom Meer her kommt, salzig und kalt, kann man die Schnellstraße hören.
Ein paar Monate lang der Glaube, alles werde gut. Laura war seine Versicherung. Sie hat ihm geholfen, die Welt auszublenden. Bis er das Klopfen eines Stockes hörte auf dem Teppichboden eines Cafés. Bis er Catrin wiedersah.
11
»Noch was zu trinken?«
»Im Moment nicht.«
»Kaffee vielleicht oder Cola?«
»Danke.«
»Oder lieber ein Wasser?«
»Also gut.«
»Also gut was?«
»Einen Kakao.«
»Mit oder ohne Sahne?«
»Egal.«
»Egal haben wir nicht. Musst dich schon entscheiden.«
»Dann ohne.«
»Ohne«, notiert die Kellnerin und geht rüber zum Tresen. Sie hat schlechte Laune. Das Café ist fast leer. Heute ist kein guter Tag für Trinkgeld.
In einer Ecke ein Liebespaar, kaum älter als Jan. Das Mädchen kichert. Eine schwarze Jacke, ein bunter Schal. Darunter ein T-Shirt, auf dem Fuck me! steht. Ihr Freund hat einen Arm um sie gelegt, hält ihre Hand, redet auf sie ein. Was er sagt, ist nicht zu verstehen. Zwei Tische weiter ein Mann, der Zeitung
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