Dieser eine Moment (German Edition)
sagt sie.
»Nein«, sagt er, »jetzt nicht mehr.«
»Hast du das schon lange?«, fragt Maja.
»Seit dem Sommer«, sagt Catrin.
Als würde die Zeit zerschmelzen, denkt er. Wie eine herunterbrennende Kerze. Mit einem Docht, der bis in seine Eingeweide reicht.
Die Serviererin legt einen Bon vor ihn. »Einsachtzig.«
Er legt ein Zwei-Eurostück daneben. »Stimmt so«, sagt er und zwingt sich zu einem Lächeln.
»Komm«, sagt er zu Maja. Und zu Catrin: »Wir müssen los.«
»Aber mein Kakao ist doch noch gar nicht leer«, protestiert Maja. »Außerdem regnet es noch immer.«
»Mama wartet«, sagt Jan. Er weiß, dass es wie eine Ausrede klingt.
»Hab mich gefreut, euch kennenzulernen«, sagt Catrin.
»Ja«, sagt er, »wir uns auch.«
»Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder.«
»Ja«, sagt er, »vielleicht.«
Er zieht Maja mit sich hinaus in den Regen, ihm ist auf einmal schlecht.
Die Fahrt im Bus nach Hause. Maja spielt blindes Mädchen. Sie hält sich die Augen zu und beschreibt ihm, was sie nicht sieht: Eine Tankstelle mit einer Autowaschanlage, dahinter ein Park. Auf der rechten Seite eine Kirche. Die Brücke über die Autobahn, eine Siedlung mit Reihenhäusern. Sie kennt jede Ampel, jede Kurve.
Er sitzt neben ihr, in seine Übelkeit versunken, während sie sich ohne Pause bei ihm erkundigt, ob das, was sie erinnert, mit dem übereinstimmt, was er sieht. Es gibt wenig zu berichtigen.
»Blind sein macht Spaß«, sagt sie, als sie aussteigen. Und fordert ihn auf, sich auf dem letzten Stück nach Hause auch die Augen zuzuhalten. »Nur, damit du mal siehst, wie es ist.«
Er tut ihr widerstrebend den Gefallen. Sie nimmt ihn am Arm und führt ihn.
Seine Füße tasten sich über das Pflaster, stolpernd, jeder Schritt eine Qual.
»Achtung«, sagt sie, »jetzt kommt eine Straße.«
Er merkt, wie ihm Tränen in die Augen schießen. Er wendet den Kopf zur Seite, wischt sie sich heimlich ab.
»Das reicht jetzt«, sagt er.
»Nur noch ein Stück«, beharrt sie.
Dann sind sie zu Hause.
»Kannst du mir vielleicht mal erklären, wo ihr so lange wart?«, schimpft seine Mutter, während sie im Flur der fröhlich vor sich hin singenden Maja mit einem Handtuch die Haare trocken reibt.
»Wir waren noch einen Kakao trinken«, sagt er, »weil es geregnet hat.«
»Ach so«, sagt seine Mutter, »deswegen ist deine Schwester auch so nass.«
»Darum waren wir ja in dem Café«, sagt Jan, »damit sie nicht nass wird.«
»Stell dir vor, Mama«, sagt Maja unter dem Handtuch, »wir haben eine Frau kennengelernt, die war blind, die konnte gar nichts sehen. Das ist so, wie wenn es immer dunkel ist.«
8
Er steht in der Schlange vor der Kinokasse. Vor ihm ein Mann, der reservierte Karten abholen will, aber seine Reservierungsnummer vergessen hat, hinter ihm ein Paar, das sich nicht darüber einigen kann, wo es sitzen will. Plappernde Münder, ganz nah, Stimmen, weit weg, wie hinter einem Nebel: die Schwierigkeit, in der Nähe des Kinos einen Parkplatz zu bekommen, die Angst vor der Dunkelheit des bevorstehenden Winters. Alltagsgeschichten.
Was er in sich hört und sieht, ist etwas anderes: eine junge Frau mit einer Sonnenbrille, die mit seiner kleinen Schwester redet. Hände, die mit der Schlaufe eines Blindenstocks spielen. Blondes Haar, dunkel vom Regen.
Von hinten legen sich zwei Hände auf seine Augen. Der Duft eines bekannten Parfums. Ein Kuss auf seinem Hals. Laura. Sie öffnet ihre Jacke, löst ihren Schal, fährt sich mit den Händen durch ihr Haar.
»Ich bin zu spät«, sagt sie.
»Macht doch nichts«, sagt er. Der Versuch eines Lächelns, der Anschein von Leichtigkeit. Dabei kommt er sich vor wie ein Lügner. Alles kommt ihm auf einmal vor wie eine Lüge. Die Begegnung mit Catrin, seine Liebe zu Laura, die Menschen im Kino. Marionetten, deren Fäden ins Nichts führen. Kein Grund, keine Ursache, kein Sinn. Irgendetwas läuft furchtbar schief.
»Was ist denn los mit dir?«, fragt Laura.
»Gar nichts«, sagt er. Und erzählt von Majas Aufregung über die bevorstehende Aufführung und wie er sie aus dem Ballett abgeholt und ihr einen Kakao spendiert hat. Und spürt, wie er immer schneller redet, wie er jedes Detail ausschmückt, wie er versucht, mit Worten die Bilder in seinem Kopf zu vertreiben.
Dass er Catrin begegnet ist, verschweigt er.
Laura deutet rüber zum Verkaufsstand neben der Kasse. »Lust auf Nachos?«
»Nein«, sagt er.
Er hasst das Knistern der Plastikschalen in der Dunkelheit, das Wühlen
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