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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Wortberg
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zurück.
    Sie sitzen zusammen im Pausenraum. Es riecht nach Männerschweiß und Metallspänen.
    »Dass du die Kleine fickst«, sagt Dario, der ihn damals zu der Party mitgenommen hat.
    Eine Sekunde lang durchzuckt Jan der Wunsch zuzuschlagen.
    »Was soll das?«, sagt er.
    »Wie schmeckt sie denn so, erzähl doch mal.«
    Dario und Malte lachen. Jan starrt sie an, unfähig zu einer Erwiderung.
    »Garantiert fischig«, sagt Malte.
    »Muss in der Familie liegen«, sagt Dario, »ihre Schwester schmeckt auch so.«
    »Ihr seid ja krank«, sagt Jan.
    »Was hast du gesagt, Wichser?«
    »Schau mal«, sagt Jan zu Laura und deutet auf das Schaufenster einer Zoohandlung. Aquarien mit Zierfischen, Volieren mit schlafenden Wellensittichen. Eine große Kiste aus Sperrholz, mit Zeitungspapier ausgelegt. Darin ein Hundewelpe, der sich unter einer Decke verkrochen hat.
    »Na und?«, fragt Laura.
    In einem der Käfige läuft ein Hamster in einem Rad. Jan legt ein Ohr an die Scheibe. Er kann das Quietschen des Rades hören. Leise und regelmäßig.
    »Hörst du das?«, fragt er.
    Laura schaut ihn an. Sprachlos. Das Leuchten in ihren Augen ist verschwunden. Ihr Blick ist voller Traurigkeit.
    Er wendet sich wieder dem Schaufenster zu. Der Hamster läuft noch immer. Sein goldbrauner Körper mit dem weißen Bauch spannt sich im Rad.
    »Warum sagst du mir nicht endlich, was los ist?«, fragt sie.
    »Was soll denn los sein?«
    »Du bist schon den ganzen Abend so komisch.«
    »Ich bin nur müde, das ist alles.«
    »Wie ausgewechselt«, sagt sie.
    Vor ein paar Tagen hat er einen Bericht im Fernsehen gesehen. Über Fischer in Japan, die Delfine in eine abgelegene Bucht treiben und abschlachten. Manchmal sind Einkäufer von Delfinarien dabei, aus Europa oder Amerika, auf der Suche nach neuen Tieren für ihre Shows. Sie zahlen gut, bis zu einhundertfünfzigtausend Euro pro Delfin.
    Die Fischer stehen mit langen Stangen im flachen Wasser der Bucht. Sie tragen Gummihosen, die ihnen bis zur Brust reichen. Brennende Zigaretten in den Mundwinkeln, warten sie seelenruhig auf die hundert oder mehr Delfine, die, von Fischerbooten in die Zange genommen, auf die Bucht zujagen. Die Tiere schnellen immer wieder aus dem Wasser, als gäbe es jenseits des Meeres eine Rettung. Als sie die Bucht erreicht haben, versperren ihnen die Fischer mit langen Netzen den Weg zurück ins offene Meer. Dann beginnt das Schlachten. Schwanzflossen, die das Wasser peitschen, während die Männer die wehrlosen Tiere mit ihren Stangen zu Tode stoßen. Teilnahmslos. Am Ende ist das Wasser in der Bucht blutrot.
    »Jan?«
    Delfine gehören zu den intelligentesten Tieren, die es gibt. Es heißt, sie seien die einzigen Tiere, die Selbstmord begehen können. Weil sie keinen Atemreflex haben, ist jeder Atemzug ein bewusster Willensakt. Wenn sie nicht mehr weiterleben wollen, hören sie einfach auf zu atmen.
    Ihm ist zum Heulen zumute. Seine Brust fühlt sich an wie mit Steinen gefüllt.
    »Hey«, sagt Laura.
    Er sieht sie in der Spiegelung des Schaufensters. Langsam dreht er sich zu ihr um. In ihrem Blick liegt eine Weichheit, die er kaum erträgt. Sie legt ihre Hände auf seine Wangen.
    »Wo bist du?«
    Eine Frage, auf die er keine Antwort weiß. Er schließt die Augen, er will nicht, dass sie seine Tränen sieht.
    »Hier«, sagt er leise.

9
    Sie liegt in ihrem Bett. Es knarrt, wenn sie sich bewegt. Seit einer Woche ist sie wieder hier. In der kleinen Studentenwohnung, die ihr kein Zuhause mehr ist. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Dreißig Quadratmeter Eigenständigkeit. Der gescheiterte Versuch eines neuen Anfangs. Abgeprallt an der Fürsorge ihrer Eltern, für die ihre Blindheit nichts weiter ist als der willkommene Vorwand, sich um sie zu kümmern.
    Sie legt die Hand auf den Schirm ihrer Nachttischlampe. Sie lässt sie die ganze Nacht eingeschaltet. Die Wärme der Lampe hilft ihr beim Einschlafen. Das Schlimmste ist das Gefühl des Angewiesenseins. Der einzige Raum, den sie noch für sich allein hat, ist der Raum in ihr.
    Die Rehabilitationsklinik war wie ein Gefängnis. Tumorkranke, Unfallopfer wie sie. Der Geruch von Krankheit und Trauer. Der Geschmack von Wut in ihrem Mund.
    Sie üben jeden Tag. Allein und in Gruppen, den ganzen Sommer lang. Wie man Dinge ertastet. Wie man Geräusche zuordnet. Wie man einen Langstock benutzt. Wie man Geldscheine und Münzen voneinander unterscheidet. Wie man ohne fremde Hilfe Mahlzeiten zubereitet. Wie man eine Wohnung sauber hält.
    Einmal in der Woche

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