Dieser eine Moment (German Edition)
Wahrheit möchtest du einfach nur weg von mir.«
»Sag das nicht!«
»Du kannst es ruhig zugeben, es macht mir nichts aus.«
»Das alles ist nicht so einfach. Auch für mich nicht.«
»Das alles ist einfacher, als du denkst«, sagt sie.
Sein Erschrecken ist echt. Sie hat ausgesprochen, was sie beide seit Wochen denken.
»Liebst du mich?«, fragt sie.
Er antwortet nicht. Sie hört, wie er mit der Kuchengabel in seinem Kirschstreusel herumstochert.
»Vergiss es einfach«, sagt sie, »es spielt keine Rolle.«
»Wieso bist du so gnadenlos?«
»Weil ich finde, wir sollten uns nichts vormachen.«
»Was meinst du damit?«
»Warum tust du so, als ob du das nicht wüsstest?«
Er stochert weiter in seinem Kuchen herum. Die Gabelspitze kratzt über den Teller.
»Schmeckt er dir nicht?«, fragt sie.
»Was?«
»Dein Kuchen.«
»Doch«, sagt er, »wieso?«
Nicht das Herz eines Hasen, denkt sie, das Herz einer Maus. Trotzdem wird er irgendwann ein riesiges Containerschiff durch Pazifikstürme steuern, er wird seiner Mannschaft ein guter Kapitän sein und seiner Frau ein lausiger Ehemann. Sie wird ihn nach seinen Reisen am Kai erwarten, stolz auf das, was er tut. Sie werden Kinder haben und er wird froh sein, wenn er nach langweiligen Heimaturlauben wieder zurück auf sein Schiff kann. Weil er sich dort auskennt. Weil es eine überschaubare Welt ist, die er messen kann in Kubikmetern und Tonnage. Sein Leben ist wie gemacht für Container.
»Ich möchte nicht mehr, dass du kommst«, sagt sie.
Seine Sprachlosigkeit ist mit Händen zu greifen. Sie weiß, dass er sie jetzt anstarrt.
»Ist besser so«, sagt sie. »Für uns beide.«
Vielleicht mache ich es ihm zu leicht, denkt sie, als er sie zum Abschied auf die Wange küsst, zum letzten Mal, draußen auf dem Klinikparkplatz. Sie wartet, bis er die Autotür hinter sich zuschlägt und den Motor anlässt. Aus dem Auspuff dringt ein dunkles Fauchen. Ein Sportwagen, denkt sie, er hat sich tatsächlich einen Sportwagen gekauft.
Am Tag ihrer Rückkehr hat ihr Vater ihr eine Blindenuhr geschenkt. Das Glas ist von einem Sprungdeckel eingefasst. Wenn sie ihn aufschnappen lässt, kann sie die Zeit ertasten.
»Damit du nicht immer fragen musst, wie spät es ist«, sagt er.
Sie sitzen im Wohnzimmer. Sie kann das Kratzen in seinem Hals hören. Das Ticken der Standuhr neben dem Sofa hämmert in ihrem Kopf. Ein Erbstück aus dem Elternhaus ihrer Mutter. Die Glocken des Londoner Parlaments. Jede volle Stunde Big Ben. Als kleines Kind hat sie sich stundenlang darin versteckt.
Sie tastet nach dem Mineralwasserglas auf dem Couchtisch. Sie weiß, dass ihre Eltern sie beobachten. Das Glas ist kühl, sie nimmt einen Schluck. Ein Schauder fährt ihr über den Arm.
»Klappt ja schon prima«, sagt ihr Vater, als habe sie gerade eine Prüfung bestanden. Sie würde das Glas am liebsten gegen die Wand schmeißen. Stattdessen stellt sie es ab. Ruhig und sicher.
»Mama hat dir dein altes Zimmer hergerichtet«, sagt ihr Vater.
Sie ist überrascht. »Wozu?«
»Du musst doch irgendwo bleiben.«
»Aber ich ...«
»Wenn es dir zu klein ist, kannst du auch unser Schlafzimmer haben.«
»Ich werde nicht hierbleiben, Papa.«
»Catrin, bitte ...«
»Ich will zurück in meine Wohnung.«
»Aber dir muss doch klar sein ...«
»Ich habe mir das gut überlegt.«
»Und wie soll das gehen, jetzt, wo du ...«
Wo ich blind bin, denkt sie für ihn den Satz zu Ende, ein augenloses Stück Mensch.
Sie hört, wie ihre Mutter ein Papiertaschentuch aus der Packung zieht und sich schnäuzt. Sie weiß, dass ihr Vater jetzt seine Hand auf ihren Arm legt, um ihre drohenden Tränen zu verhindern. Sie kennt seine Gesten der Beschwichtigung.
»Warum alles auf einmal«, sagt er, »warum wartest du nicht noch?«
»Worauf?«, fragt sie. »Dass ich wieder sehen kann?«
»Martin hat dir Blumen geschickt«, sagt ihre Mutter mit zitternder Stimme.
Catrin begreift. Deshalb der süßliche Duft, der das Zimmer erfüllt.
»Er hat eine Karte dazugelegt«, fährt ihre Mutter fort. »Soll ich sie dir vorlesen?«
»Nein«, sagt Catrin.
Sie schweigen. Die Anspannung zwischen ihnen verdrängt jedes weitere Wort.
»Wir müssen das ja nicht heute klären«, sagt ihr Vater schließlich.
»Doch, Papa!«
»Wenn du dich erst mal gewöhnt hast ...«
»Woran?«
»An dein neues Leben. Wenigstens ein bisschen.«
Soll das ein Witz sein?, denkt sie. Ein bisschen gewöhnen. Angewiesen sein. Für immer ein Kind bleiben.
»Ich
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