Dieser eine Moment (German Edition)
liest, schüttere graue Haare, eine Lesebrille aus Horn, die Hände knotig.
Jan starrt hinaus in den Nachmittag. Der Himmel düster, ohne Konturen. Die Fassaden der Häuser abweisende Gesichter. Die Wohnungen dahinter dunkle Höhlen, kalt und unbehaust. Er spürt den Wind nicht, aber er kann ihn sehen. Jede Böe lässt die Scheiben zittern. Vereinzelt vorbeihastende Passanten, die Krägen ihrer Mäntel hochgeschlagen. Der Herbststurm tanzt in ihren Haaren. Bei diesem Wetter ist niemand gerne auf der Straße.
Seit einer Stunde sitzt er jetzt hier. Am selben Tisch, an dem er mit seiner Schwester saß. Er wartet. Der Bierdeckel, den er unter den Nebentisch geschoben hat, klemmt noch immer dort.
Und wenn sie nicht kommt?
»Einen Kakao ohne«, sagt die Kellnerin und stellt eine Tasse vor ihn auf den Tisch.
»Danke«, sagt er so leise, dass er sich selbst kaum hört. Das Leben kommt ihm vor wie ein leeres Versprechen. Auf Sand gebaute Träume. Aus den Lautsprechern an der Decke dringt Musik. Eins dieser ewig gleichen Lieder.
Jan steht auf, geht rüber zur Toilette. Auf der Tür ein Manneken Pis aus Messing. Der Geruch nach undichten Abflussrohren und Urin. An den Wänden blassgrüne Fliesen. Die Klokabinen aus grauem Resopal wie Fremdkörper im Raum. Durch ein gekipptes Fenster zieht kalter Wind herein.
Er öffnet den Reißverschluss seiner Hose. Die Spülung des Urinals ist defekt. Wasser rinnt auf den Klostein über dem Abflussgitter.
Er versteht sich selbst nicht. Er hat die Kontrolle verloren. Das Meer in ihm eine Wüste. Grenzenlos und leer. Ertrinken oder verdursten, es macht keinen Unterschied.
Er versucht zu pinkeln, aber er kann nicht. Als wäre seine Blase zugenäht. Er schließt seine Hose, tritt ans Waschbecken. Auf der Ablage steht eine leere Plastikflasche, daneben ein WC-Reiniger. Er dreht den Wasserhahn auf, schaut in den Spiegel. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein Fehler, der den nächsten bedingt. Alles hängt miteinander zusammen. Verfilzte Fäden, vom Schicksal gewoben, ohne Anfang, ohne Ende.
Er spritzt sich Wasser ins Gesicht. Das macht es nicht besser. Die Wassertropfen laufen wie Tränen über seine Wangen, seine Haut weint. Er greift in die Box mit den Papierhandtüchern. Sie ist leer.
Du musst es ihr sagen, sie hat ein Recht darauf!
Als wäre er auf einen riesigen Globus gespannt, Hände und Füße an den Polen fixiert. Die Sonne über dem Äquator, die ihm den Körper verbrennt, während seine erfrorenen Finger und Zehen abfallen und nichts als schwarze Stümpfe zurücklassen.
Er reibt sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Pullovers trocken, geht zurück ins Café, vorbei an dem Tisch mit dem Liebespaar.
»Für immer und ewig«, hört er den Jungen säuseln.
Was für ein Kitsch, denkt er.
Das Mädchen strahlt ihren Freund verliebt an. »Kannst du doch gar nicht wissen«, sagt sie.
»Doch«, sagt der Junge und küsst sie.
Dann bemerkt er Jan. »Ist was?«, fragt er.
»Nein«, sagt Jan.
»Was glotzt du dann so?«
Jan will etwas erwidern, aber er kann nicht. Er starrt durch den Jungen hindurch, an ihm vorbei, über ihn hinweg. Er starrt rüber zu dem Tisch neben seinem Tisch, an den sich in diesem Moment eine junge Frau setzt, deren Namen er kennt. Ihre Haare sind lang und blond, ihre Augen von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt. Sie legt ihre Jacke auf den freien Stuhl neben sich. Sie hält ihren Blindenstock zwischen den Beinen wie ein kleines Kind.
Der Reflex zu fliehen. Ein rascher Blick, ein hastiges Abschätzen: Auf seinem Tisch die Tasse mit dem Kakao, über der Stuhllehne seine Jacke. Das Portemonnaie steckt in der Innentasche. Er hat noch nicht bezahlt.
»Jetzt ist es aber gut«, sagt der Junge. Er wedelt mit der Hand. Seine Freundin macht einen Kussmund, die Schrift auf ihrem T-Shirt ist verzerrt von der Wölbung ihrer Brüste.
Jan geht langsam rüber zu seinem Tisch, setzt sich. Er beobachtet Catrin aus den Augenwinkeln. Er wagt nicht, sie offen anzuschauen. Sie scheint der Musik zu lauschen. Reglos, ganz in sich versunken. Dann, als spüre sie seinen versteckten Blick, wendet sie sich ihm zu.
»Ganz schön kalt da draußen, finden Sie nicht?«
Er antwortet nicht.
»Entschuldigung«, sagt sie, »ich wollte Sie nicht stören.«
»Kein Problem«, sagt er.
Das ruckhafte Aufrichten ihres Oberkörpers verrät ihm, dass sie ihn erkannt hat.
»Jan?«
»Ja«, sagt er und spürt, wie sein Herz zu rasen beginnt.
»Was machst du hier?«
Komm schon, denkt er,
Weitere Kostenlose Bücher