Dieser eine Moment (German Edition)
er, um sich nicht zu verraten.
»Was ist denn«, fragt sie, »was hast du?«
»Nichts«, sagt er.
Er versucht, in ihrem Gesicht zu lesen. Ihre Lippen haben sich entspannt, sie hat sich wieder vollkommen im Griff.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Einen Gefallen?«
»Mir beschreiben, was du siehst.«
»Was ich sehe?«
»Was du siehst.«
»Na ja«, stammelt er verunsichert. »Die Straße draußen. Den Regen. Das Café. Tische, Stühle, ein dunkler Teppich.«
»Mehr nicht?«
»Dahinten sitzt ein Liebespaar. Sie küssen sich. Ein Mann liest Zeitung. Die Kellnerin langweilt sich. Sieht jedenfalls so aus. Hat ja auch nicht viel zu tun.«
»Was noch?«
Er zögert. Dann sagt er leise: »Dich.«
»Mich.«
»Ja.«
»Und wie sehe ich aus?«
»Wie meinst du das?«
»Wie ich es sage.«
Er starrt sie an, er versteht das nicht.
»Entschuldige«, sagt sie, »ich weiß, ich bin zu direkt. Ich stoße andere vor den Kopf, das war schon immer so.«
»Das ist es nicht«, sagt er, »bloß ...«
»Bloß was?«
»Ich kann so was nicht. Ich bin nicht gut mit Worten.«
»Bitte«, sagt sie, »es wäre mir wichtig.«
»Aber du weißt doch, wie du aussiehst.«
»Das ist es ja eben«, sagt sie leise, »ich weiß es nicht mehr.«
Ein eiserner Ring, der sich um sein Herz legt und mit einem Ruck zusammenzieht. Er wird niemals die Kraft finden, ihr zu sagen, wer er ist.
Reiß dich zusammen, denkt er.
»Deine Haare sind blond und lang«, sagt er leise. »Du trägst eine Sonnenbrille. Ziemlich dunkel. Wie deine Augen aussehen und welche Farbe sie haben, weiß ich nicht. Du hast hohe Wangenknochen, deine Nase ist schlank, deine Lippen sind voll. Deine Haut ist hell. Sie sieht weich aus und durchsichtig. Wie Milch oder so. Mehr kann ich nicht sagen, nur dass du ...«
»Dass ich was?«
»Du bist wahnsinnig schön.«
Er schaut sie an. Sie sitzt da, zerbrechlich wie Porzellan. Ihre Hände liegen unbewegt um den Griff ihres Blindenstocks. Er könnte losheulen.
»Alles okay?«, fragt er.
Sie nickt. »Das ist das Schönste, was ich je über mich gehört habe.« Dann lacht sie: »Ziemlich gut für jemanden, der von sich sagt, er sei nicht gut mit Worten.«
Er antwortet nicht. Was sollte er auch darauf sagen.
»Bist du glücklich?«, fragt sie.
»Bitte?«
»Hast du dich das noch nie gefragt?«
»Doch ... schon.«
»Und?«
»Ich weiß nicht«, sagt er. »Warum willst du das wissen?«
»Nur so«, sagt sie.
Auch wenn sie blind ist, er fühlt sich durchschaut. Als könne sie mitten in ihn hineinsehen. Die Deckenlampen des Cafés spiegeln sich in den Gläsern ihrer Sonnenbrille. Sie fährt mit den Fingern am Griff ihres Blindenstocks entlang.
»Du bist irgendwie anders«, sagt sie.
»Anders?«
»Du hast keine Antworten und du stellst keine überflüssigen Fragen.«
Wieder eine Bemerkung, die er nicht versteht.
»Die Leute wollen immer wissen, wie das passiert ist mit meinen Augen und wie sich das anfühlt«, sagt sie. »Manchmal komme ich mir vor wie ein Tier im Zoo.« Um ihren Mund macht sich ein bitterer Zug breit. »Jemand hat eine Kamera in meinem Käfig installiert. Und draußen stehen die Leute und schauen über Monitore zu mir herein.«
»Du kannst sie nicht sehen«, sagt er.
»Nein«, sagt sie, »ich kann sie nicht sehen. Ich kann nur ihre Blicke spüren, die ganze Zeit. Ich könnte auch nackt durch die Straßen laufen, das wäre dasselbe.«
»Bloß kälter«, sagt er, »bei dem Wetter.«
Sie lacht. »Du hast Humor.«
»Du bist die Erste, die das findet.«
Sie schweigen. Vom Tresen her dringt das Zischen des Milchschäumers zu ihnen herüber.
»Würdest du mich nach Hause bringen?«, fragt Catrin. »Ist nicht weit, nur ein paar Straßen ...«
»Wenn du willst.«
Sie hat sich bei ihm untergehakt. Der Wind ist wie eine Wand, die sie anzieht und abstößt. Als säßen sie in einem kleinen Boot, das über das aufgepeitschte Meer tanzt. In seinem Kopf schreien Möwen. Er schaut auf den Stock in ihrer Hand, die Spitze tanzt über das Pflaster des Gehsteigs.
»Der Wind macht es schwierig«, sagt sie, »da kann ich die Häuser nicht so gut hören.«
»Du hörst die Häuser?«
»Ihr Echo«, sagt sie, »sie werfen den Schall zurück.«
»Wie bei einer Fledermaus«, sagt er.
»So ungefähr«, sagt sie, »nur dass ich kein Blut trinke.« Sie lacht wieder. Leicht und unbeschwert.
Sein Handy klingelt.
»Willst du nicht drangehen?«, fragt sie.
Es klingelt erneut.
»Na komm, geh dran.«
Es ist Laura.
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