Dieser eine Moment (German Edition)
setzt ihren Fuß auf das Trittbrett. Er nimmt ihre Hand und legt sie um den Haltegriff.
»Zieh dich hoch«, sagt er. »So ist gut, jetzt das andere Bein.«
In diesem Moment sieht er am Heck des Sattelschleppers einen der Fernfahrer auftauchen.
»Beeil dich«, flüstert er und schiebt sie von unten in die Kabine. Der Mann hält eine Bierflasche in der Hand. Wenn er seinen Kopf nur ein bisschen dreht oder aus den Augenwinkeln zu ihnen rüberschaut, ist alles vorbei.
»Ich bin drin«, flüstert Catrin.
Der Mann macht sich an seinem Hosenstall zu schaffen und erleichtert sich an der Hinterachse des Sattelschleppers. Er pisst die Felgen sauber. Dabei kichert er, als handele es sich um einen Dummejungenstreich. Als er sein Glied zurück in die Hose schiebt, bemerkt er Jan. Der starrt ihn an, die geöffnete Fahrertür in der Hand. Direkt ins Gesicht. Der Mann zögert. Er scheint nicht zu wissen, wie er ihn einschätzen soll.
»Was ist?«
Jan deutet auf die uringlänzende Felge. »Saubere Arbeit.«
»Man tut, was man kann.« Der Mann grinst, dann verschwindet er.
Jan atmet erleichtert auf und klettert in die Fahrerkabine.
»Catrin?«
»Ich bin hier.«
Er zieht den Vorhang beiseite. Catrin kauert in einer Ecke der schmalen Pritsche, die Beine angezogen. Quer durch die Kabine ist eine Gepäckspinne gespannt. Darüber hängen eine an ihrem Henkel aufgefädelte Tasse, eine Rolle Klopapier, ein schmutziges T-Shirt. Auf einem Bord ein Tauchsieder, ein Glas Nescafé, eine Dose Kondensmilch, ein kleines Radio. Daneben Pornohefte.
Jan quetscht sich zwischen den Sitzen hindurch auf die verfleckte Matratze, zieht den Vorhang zu. Die Luft nimmt ihm den Atem. Kalter Zigarettenrauch, der Gestank durchschwitzter Nächte auf Autobahnraststätten. Gesetzlich verordnete Zwangspausen zwischen den langen Stunden am Steuer oder das Warten auf das Ende des sonntäglichen Fahrverbots.
»Kein Zurück mehr«, sagt Catrin.
»Nein«, sagt Jan, »kein Zurück mehr.«
Er greift nach der karierten Wolldecke, sein Kopf ist leer.
Sie tastet nach seiner Hand. Ihre Finger sind weich und warm.
22
Ausgeklinkt unter einer stinkenden Wolldecke. Zeitlos, wie schwebend. Kaum Luft zum Atmen. Geräusche, die wie durch Watte gedämpft zu ihm durchdringen. Der Fahrer, der einsteigt, den Motor startet. Das langsame Vorrücken der Lkw-Kolonne, das Passieren des Kontrollpunktes. Papiere, die durch das geöffnete Fahrerfenster raus-und wieder reingereicht werden. Das Zischen der Bremshydraulik, das metallische Knirschen beim Überfahren der Rampe in den Schiffsbauch. Die hallenden Rufe der Einweiser im Parkdeck, das Fluchen des Fahrers, der Gestank nach Dieselabgasen. Das Zittern der Fahrerkabine, als der Sattelschlepper seine Parkposition erreicht hat und der Motor mit einem Schütteln erstirbt. Das Quietschen der Sitzfederung, das Zuschlagen der Tür. Noch eine Weile vereinzelt Stimmen, die wie verlorene Seelen durch das Deck hallen. Dann nichts mehr. Nur ihr Körper an seinem, ihre Haare an seinem Gesicht.
»Jan?«
»Ja?«
»Ist er weg?«
»Ich glaub schon.«
Vorsichtig hebt er die Wolldecke an, zieht den Vorhang beiseite, schält sich aus der Enge ihres stinkenden Verstecks, späht hinaus in die von Neonleuchten beschienene Stille des Parkdecks. Vor ihm und an den Seiten Lkws, dicht an dicht. Er öffnet die Fahrertür. Ein Schwall feuchtwarmer Luft schlägt ihm entgegen, es riecht nach Abgasen und Dieselöl. In seinen Ohren das Brummen der Schiffsmaschine, wie von weit her. Dann ein kurzes, heftiges Vibrieren, das den Rumpf durchzieht wie ein Schaudern. Die Fähre legt ab.
»Komm«, sagt er und hilft ihr hinaus.
Er denkt an Laura und seine Eltern, an die rundliche Inkie und den aufgeblasenen Lars. Er glaubt ein Lächeln zu sehen im Gesicht seines Meisters. Die Augen seiner Schwester schauen ihn an, als wollten sie fragen: Was machst du da?
Catrins Hand auf seiner Schulter. Er sucht nach einem Weg aus dem undurchdringlichen Neben-und Hintereinander aus Reifen, Stahl und Blech. Es dauert lange, bis er einen Aufgang gefunden hat.
Er hilft ihr die steile Treppe hinauf, dann eine zweite, eine dritte, bis sie einen der Kabinenflure erreichen. An der Decke Rauchmelder und Sprinkler. Teppichboden, der ihre Schritte dämpft. Hinweisschilder aus Aluminium. Geprägte Nummern und Buchstaben zur Orientierung im Labyrinth der Gänge und Decks. Das Schiff ein Rätsel.
Ein Steward kommt ihnen entgegen. Jan lässt seinen Blick über die Kabinennummern
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