Dieser eine Moment (German Edition)
der Dunkelheit ihrer lichtlosen Tage und Nächte. Weil sie ein Auge braucht und er zwei davon hat.
»Ich wäre deine Prinzessin«, sagt sie.
»Ich soll dich entführen?«
»Wenn du so willst.«
»Ich hab nur zwanzig Euro«, sagt er.
»Ich hab auch nicht mehr«, sagt sie.
»Und wie willst du dann ...?«
»Keine Ahnung.«
Er schaut rüber zum Pier. Hafenarbeiter, die armdicke Seilschlingen um eiserne Poller werfen. Das Kreischen von Winden, mit denen die Fähre sich langsam an den Kai zieht. Ein Zittern, das durch den ganzen Rumpf geht, ehe die Maschinen stoppen. Die von den Strahlrudern erzeugte Gischt, die sich auflöst im dunklen Wasser des Hafenbeckens.
»Also gut«, sagt er, »warum nicht.«
21
Die Autos stehen in langen Schlangen am Kai, nach Größe sortiert, getrennt durch weiße Markierungen auf dem vom Schnee geräumten Asphalt. Pkws, Busse, Lastwagen.
Er hat sie am Arm genommen und hergeführt, vorbei an einer Schranke. Niemand hat sie kontrolliert, niemand spricht gern eine Blinde an.
Sie laufen durch lange Reihen wartender Sattelschlepper, mit Namen und Logos auf den vom Schneematsch verdreckten Aufliegern. Kühltransportfirmen für Frischfisch, internationale Speditionen. Die meisten Nummernschilder aus Deutschland und Skandinavien, ein paar aus Rumänien, der Ukraine.
»Ich glaube nicht, dass das funktioniert«, sagt Catrin.
»Abwarten«, sagt Jan und zieht sie weiter mit sich durch die enge Gasse zwischen den Lastwagen, an deren Ende das Hafenbecken liegt und die riesige Fähre.
Catrins Blindenstock schlägt auf den Asphalt, nach rechts, nach links und wieder nach rechts, das regelmäßige Klacken hallt wider von den Wänden und Planen der Auflieger und Anhänger.
»Du musst damit aufhören«, sagt er, »das verrät uns.«
Sie hebt den Stock an, er nimmt eine ihrer Hände, legt sie sich auf die Schulter. Der Geruch nach Diesel in der Winterluft, der unverwechselbare Gestank erkalteter Bremsbeläge.
Ein Stück vor ihnen öffnet sich die Fahrertür eines Sattelschleppers. Ein Mann steigt aus, in der Hand seine Frachtpapiere und ein Portemonnaie, dazu eine Schachtel Zigaretten. Er fährt sich mit der Hand durch sein unrasiertes Gesicht, schlägt die Fahrertür zu, ohne sie abzuschließen, zieht den Reißverschluss seiner zerschlissenen Lederjacke hoch. Er zündet sich eine Zigarette an. Er trägt rote Turnschuhe.
Er bemerkt die beiden nicht, geht vorne um die Zugmaschine herum, dann ist er verschwunden.
Durch den Spalt zwischen Auflieger und Führerhaus sieht Jan eine Gruppe von Lkw-Fahrern. Eine Reihe weiter stehen sie rauchend da, warten darauf, dass es endlich losgeht. Sie reden über die Verschärfungen der Zollkontrollen, über die unvermeidlichen Verzögerungen durch den Wintereinbruch und darüber, dass man nie weiß, welcher Platz einem im Autodeck zugewiesen wird. In drei Tagen ist Weihnachten, da wollen sie zurück sein, unbedingt, zu Hause bei ihren Familien.
Er beobachtet, wie der Fernfahrer mit den roten Turnschuhen seine Kollegen begrüßt. Einige von ihnen scheint er zu kennen, wahrscheinlich macht er die Norwegentour öfters.
»Und?«, fragt Catrin.
»Warte«, sagt Jan.
Er greift nach dem Handgriff neben der Fahrertür, schwingt sich aufs Trittbrett, schaut in das Fahrerhaus. Auf dem Armaturenbrett steht ein Michelin-Männchen aus Kunststoff, er muss an Inkie denken und ihren Freund Lars. Er ärgert sich noch immer, dass er ihm keine reingehauen hat vor der Natursteinwand mit dem Kamin.
Der Truck besitzt eine Schlafkabine, durch einen grauen Vorhang vom Fahrersitz getrennt. Der Vorhang ist zugezogen. Jan spürt, wie sein Puls sich beschleunigt. Er springt zurück auf den Asphalt.
»Es muss schnell gehen«, sagt er, »wir haben nur einen Versuch.«
»Und wenn er während der Überfahrt in seinem Lastwagen bleibt?«
»Das darf er nicht.«
Er schaut unter den Achsen des Sattelschleppers hindurch rüber in die nächste Reihe, wo die Fernfahrer sich noch immer ihre frierenden Füße vertreten.
»Also gut«, sagt sie. »Was muss ich tun?«
»Ich mache die Tür auf und du kletterst rein. Durch den Vorhang zwischen Fahrer-und Beifahrersitz nach hinten. Wenn du drin bist, komme ich nach. Und gib mir deinen Stock.«
»Nein«, sagt sie. Ihre Hände umklammern den Blindenstock.
»Der behindert dich nur«, sagt er und schaut sich erneut um. Sie reicht ihm zögernd den Stock, er öffnet die Tür.
»Das rechte Bein zuerst«, sagt er, greift nach ihrem Unterschenkel,
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