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Dieses Buch gehört meiner Mutter

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Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Hackl
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Hof,
    außer als Stubenmädchen
    in die Stadt hin und wieder
    und das war dann:
    Abstieg wie Befreiung.
    Sie hatten immer eine,
    die ihnen die liebste war.
    Die nie klagte, nie kränkelte,
    jede Grobheit schluckte.
    Auf die sie als einzige hörten,
    wenn sie dabei waren,
    das letzte Geld zu vertrinken
    oder sich was anzutun.
    Meistens war es die Jüngste.
    Vielleicht war es die Unschuld,
    von der sie sich Erlösung versprachen,
    wenn sie vergraben waren
    in Unglück und Leid.
    Der Oswaldl zum Beispiel
    hatte zwei Töchter und einen Sohn.
    [63]  Der Hias brauchte erst
    gar nicht zu kommen,
    ihn nach Hause zu weisen,
    wenn er schon den dritten Tag
    bei uns saß und trank.
    Auch die Maria konnte ihn nicht
    zum Heimgehen bewegen.
    Immerhin jagte er sie nicht davon.
    Der Zia aber folgte er aufs Wort.
    Kommt schon, Vater, sagte sie,
    und er zahlte, erhob sich und ging.
    [64]  Wieder ein Vater und seine Tochter.
    Die eine, die da war,
    das Schlimmste zu verhindern.
    Als wir so schwer verschuldet waren,
    weil er sich mit der Säge verspekuliert hatte
    oder weil der Holzpreis jäh gefallen war
    oder wegen der deutschen Tausendmarksperre,
    und nahe daran, Haus und Hof zu verlieren:
    da ging er eines Tages hinauf in den Wald.
    »Tummel dich, renn ihm nach«,
    sagte meine Mutter,
    »mir ist, er tut sich was an.«
    Er saß auf einem Baumstock,
    in der Hand den Strick.
    Er schaute ins Leere.
    Er schwieg.
    Ich setzte mich zu ihm.
    Ich hob den Blick.
    Vom Nußbaum vor uns löste sich ein Blatt.
    Es zitterte, während es fiel.
    Es landete sanft.
    Von ihm Fallen und Landen zu lernen,
    das hätte ich meinem Vater gegönnt.
    Aber er schaute ins Leere.
    [65]  Ich gab immer zuviel auf das,
    was die anderen sagten.
    Das war mein Fehler
    mein Lebtag lang
    und schon damals.
    Machten sie sich über einen lustig:
    gleich kam er mir eigen vor.
    Fand ihn wer häßlich,
    gefiel er mir nicht.
    Lachten sie über ihn,
    rückte ich ab von ihm.
    Der schielt,
    der hat einen Buckel,
    der hat einen Kropf,
    dem ist eine schiefe Nase gewachsen.
    Er schielte nicht,
    er hatte keinen Buckel,
    er hatte keinen Kropf,
    ihm war keine schiefe Nase gewachsen.
    Aber ich, immer besorgt,
    was die anderen sagten.
    [66]  Meine zweite Sünde war,
    das eigene Geschlecht zu verraten.
    Nicht zu verraten:
    für durchtrieben zu halten.
    Den Frauen zuzutrauen,
    was ich den Männern nicht nachtrug.
    Der Kastner Max etwa
    zwang seine Frau,
    zum Schöpfen aus der Rahmsuppe
    in der Mitte des Tisches
    einen Extralöffel hinzulegen.
    Einen Löffel für ihren Geliebten,
    den er sich einbildete.
    Jeden Tag, Jahr für Jahr.
    Ich hielt es nicht für ausgeschlossen,
    daß sie einen hatte,
    sie sah den Männern beim Kirchgang
    schnell und scharf in die Augen.
    Sonst gab es keinen Anlaß,
    argwöhnisch zu sein.
    Sie blieb auch als Witfrau allein,
    und nie hat man sie mit einem gesehen.
    Habe ich mein Mißtrauen gebeichtet,
    ich könnt es nicht sagen.
    [67]  Das dritte Vergehen:
    die Angst, etwas zu wagen,
    ist von meiner Mutter
    auf mich gekommen.
    Nur nicht was anderes tun als die andern.
    Nur nicht sich auf die eigenen Füße stellen.
    Nur nicht der Sehnsucht sich hingeben.
    Nur nicht den Ernst der Lage aufs Spiel setzen.
    Zu wenig gutgläubig sein
    kann auch sündhaft sein.
    Ich weiß, warum ich so geworden bin.
    Ich habe sie miterlebt, die schiefgegangenen
    Unternehmungen meines Vaters.
    Das Sägewerk, der Holzhandel
    haben uns fast ruiniert.
    Die Mutter war gleich dagegen.
    In der großen Krise, als wir so schwer verschuldet waren,
    wollte mein Vater auswandern mit Sack und Pack,
    gemeinsam mit Tiroler Bauern und dem Minister Thaler.
    Der Antrag war schon abgeschickt.
    Die Mutter war dagegen.
    Dieses eine Mal hat er auf sie gehört,
    just im falschen Moment.
    [68]  Brasilien, Dreizehnlinden.
    Guter Boden, keine Fröste,
    vier Ernten im Jahr.
    Viele sind schon auf der Überfahrt gestorben.
    Dazu die leeren Versprechungen.
    Das Land, das erst zu roden war.
    Die Schlangen und die Seuchen.
    Aber die meisten haben es geschafft.
    Und mein Bruder wäre nicht gefallen,
    nicht gefallen auf der falschen Seite.
    Wäre ich eine andere geworden in der Fremde,
    wäre mir die Fremde Heimat geworden.
    Das hätte mich schon gereizt:
    mir gegenüberzutreten als die andere.
    [69]  Sie kamen nie ohne Geschenke aus der Stadt: die ausgemusterten Kleider ihrer Herrschaft, Faschingskostüme, Sonnenhüte, Glaskugeln, in denen es das ganze Jahr über schneite. Von Mal zu Mal wurden sie schmäler,

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