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Dieses Buch gehört meiner Mutter

Dieses Buch gehört meiner Mutter

Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Hackl
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größer, blasser, fremder und gebrauchten Wörter, die neu für uns waren. Einige hatten sich plötzlich einen Bubikopf schneiden lassen, aus Bequemlichkeit, wie sie sagten, und weil es gerade schick sei (das war so ein unbekanntes Wort). Zum Kirchgang am Sonntag trugen sie Schuhe mit dünnen Absätzen und wackelten mit dem Hintern wie die Bienen, wenn sie den Saft aus den Blüten saugen. In den Stall gingen sie ungern, bei der Feldarbeit packten sie an wie früher. Kaum hatten sie rote Wangen, schon sorgten sie sich um ihren Teint (wieder ein Wort, das wir nicht kannten). Man merkt halt doch den Unterschied, sagten sie anerkennend beim Essen, während wir mit vollem Mund schwiegen. In der Butter schmeckten sie das frische Gras. Aber sie strichen es dünn aufs Brot.
    [70]  Vom Mai sind mir nur
    die Marienandachten
    in Erinnerung geblieben.
    Es waren die schönsten.
    Der warme Regen,
    durch den wir liefen,
    die milden Nächte.
    Ein strahlender erster Mai,
    an dem der Hansl und ich
    auf der Hoaleithen
    den ganzen Tag eggten
    und uns dazwischen müde
    das Glück vorstellten:
    Ein Treffer im Lotto
    (niemand bei uns spielte Lotto,
    hinausgeschmissenes Geld),
    vom Gewinn ein Motorrad,
    auf dem wir gemeinsam
    nach Wien flitzen würden.
    Die große Stadt erkunden.
    Die hohen Häuser bestaunen.
    Im Prater in der Hutschen fliegen.
    Am Schießstand eine Rose schießen.
    Mit einem Taxiauto fahren.
    Viel mehr fiel uns nicht ein.
    Man hätte weit gehen müssen,
    nach Freistadt oder gar nach Linz,
    zum Ersten Mai-Aufmarsch
    der Arbeiter, die uns ängstigten.
    [71]  Wogegen oder wofür
    sie marschierten.
    Was demonstrieren heißt,
    hatten wir nicht gelernt.
    [72]  Endlich ließen sie mich doch in die Stadt fahren, von der man Wunder und Greuel erzählte. Ich sah nur die Wunder von Wien, ja, und einmal einen Trupp Nazis, die in weißen Stutzen durch die Straße marschierten. »Dürfen die das?« Meine Schwester, die Minerl, zog mich schnell weiter. Dabei erzählte sie mir, als wäre der Aufmarsch die späte Rache des Personals, von der Hausfrau, bei der sie ihre erste Stellung angetreten hatte. Die habe sie die ganze Zeit vom Bett aus kommandiert und sei über ihre früheren Dienstmädchen hergezogen.
    Die eine war ihr nicht sauber genug.
    Die nächste war frech.
    Die dritte oft krank.
    Der vierten mußte sie dauernd auf die Finger schauen.
    Die fünfte war ordinär, eine Person geradezu.
    Die letzte nahm sich gar ein Mannsbild mit aufs Zimmer.
    Jetzt hatten sie es gut getroffen mit ihrer jeweiligen Herrschaft, meine Schwester und meine Tante Anna, bei denen ich der Reihe nach schlafen durfte. Im Dienstbotenzimmer im weichen Bett unter einer federleichten Steppdecke. Ich lag nicht, ich schwebte. Ich konnte lange nicht einschlafen. Das Fenster ging auf den Lichthof.
    Ich lernte ein neues Wort kennen: Gnädige.
    Ich lernte, nicht mit dem Geschirr zu klappern.
    Ich lernte, daß das Beten vor dem Essen entfiel.
    Ich lernte, daß man sich stattdessen die Hände wusch.
    Ich lernte, daß man auf der Straße nicht jedermann grüßen mußte.
    Ich lernte, daß es auch in der Mehrzahl eine Höflichkeitsform gab.
    [73]  Tante Anna diente bei einem kinderlosen Ehepaar, schon älter, freundlich, mild, ohne Launen, das selten ausging und noch seltener Besuch empfing. Der Mann war Jude, wie mir die Tante flüsternd verriet. Er erzählte bei Tisch wunderliche Geschichten von den Straßenbahnern, die er als Kassenarzt behandelte. Die Frau führte mich in den Zirkus, ins Kino, in den Prater. Es war genau so, wie der Hansl und ich es uns vorgestellt hatten, oder eine Spur schöner: wir hatten die blühenden Kastanienbäume vergessen.
    Kochen, kehren, waschen, bügeln…
    Dazu zwanzig weitere Verrichtungen.
    Aber man mußte sich nicht hetzen.
    Man kam selten ins Schwitzen.
    Man war unter Dach.
    Man hatte einen freien Tag.
    Man konnte sich was zur Seite legen.
    Bei der Minerl ihrer Herrschaft ging es lebhaft her. Der Hausherr war Theaterdirektor, die Frau Kapellmeisterin in einem Damenorchester. Sie fuhr heimlich nach Baden, ins Casino, Geld verspielen, und wenn sie zurück war, knallten die Türen. Ein dicklicher Sohn war da und eine plappernde hübsche Tochter, die mir vom Fenster aus ihren Verehrer zeigte, den sie heiraten werde, »weil er stinkreich ist, aber ein Jud, brrrr!«, und vom jungen Kooperator mit der schönen Stimme schwärmte. »Einmal hab ich ihm ein Busserl gegeben. Ein Fehler, ich geb’s zu. Er ist ausgefahren, wie wenn ihm der

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